Befreiung zum Reim
Zu Menschenkunde und Mur von Andreas Koziol
„Es ist der Reim, den wir lieben; nicht das Echo und nicht den Einklang, sondern Harmonie.“ Dieser Satz Roman Jakobsons könnte als Motto über dem Werk Koziols stehen.
Andreas Koziol wurde 1957 in Suhl geboren und starb 2023 in Berlin. In den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts gehörte er der legendären Dichterszene am Prenzlauer Berg an und war Mitbegründer des Verlags Druckhaus Galrev. Er veröffentlichte neben einem Band in Gerhard Wolfs „Außer der Reihe“ im Aufbau Verlag vor allem in Klein-, und Kleinstverlagen. Zumindest in der DDR- Zeit war sein Leben geprägt von Strategien, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Er studierte Theologie und arbeitete unter anderem als Briefträger, Totengräber und Heizer.
2024 wurden zwei Bücher mit nachgelassenen Gedichten publiziert, die man als Klammer seines lyrischen Werkes betrachten kann. Im Verlag Kookbooks erschien der Band Menschenkunde, herausgegeben von Lutz Seiler, in Zusammenarbeit mit Henryk Gericke, und bei Moloko Print der Gedichtzyklus Mur. Zusammengenommen ein Vermächtnis, aber auch ein Einstieg in einen lyrischen Kosmos, der sich geradezu als Paralleluniversum neben der Gegenwartslyrik entfaltet. Und nicht die Masse macht seine Größe aus. Vielmehr speist sich sein Schreiben aus einer zwar überschaubaren Anzahl lyrischer Verfahren, die aber durch ihren intensiven Gebrauch zu lyrischer Stärke anschwellen, während sie sich zugleich in sensitive Kapillaren verzweigen.
Mur bietet dabei eine Staffel von Gedichten mit je vierzeiligen Strophen, die sich um den titelgebenden Charakter drehen, den man wohl zuweilen als Alter Ego des Dichters betrachten kann, So heißt es zum Beispiel unter der Überschrift „Arbeitslos“:
Mur beschließt sich einen Job zu suchen
Er war Totengräber schon und Nachtportier
Er war Gottessucher und ein Ass im Fluchen
Er war Streckenwärter zwischen Was und Weh
In Menschenkunde variieren die Strophenformen. Im Zentrum steht dabei der Reim, und zwar nicht der gegenwärtig oft bevorzugte Binnenreim. Koziol arbeitet so offensiv und frei mit dem Endreim, dass es eine Freude ist; denn in Koziols Art von Reimen liegt das Versprechen gelungenen Sprechens. Gleichklang muss dabei eben nicht Gleichschritt nach sich ziehen .
Harmonie der Form, wenn auch bei Koziol oft inhaltlich durch bittere Aussagen gegengewichtet, deutet formal Möglichkeiten an, deren Einlösung in der Lebenswelt allzu oft zum Scheitern verurteilt waren und sind. Aber das Festhalten an dem Versprechen dringt trotzig herauf. Gerade dort, wo der Reim nicht vollständig aufgeht:
Da gehen zwei Männer über ein Feld
Das Feld ist von Neubaublöcken umstellt
Es haben sich auch ein paar Bäume ergeben
Jetzt gehen die Männer den Bäumen entgegen
Zuweilen fühle ich mich an die Großstadtlyrik Georg Heyms erinnert, paradoxerweise gerade dann, wenn unvermittelt ein Baum in die Verse, das Städtische der Verse bricht und sich in trotzig melancholischem Humor verfängt:
Die Wäsche hängt verwirrt auf ihren Leinen
im Regen der von allen Scheiben rinnt.
Der Regen bringt dein Spiegelbild zum Weinen.
Es faßt nicht, daß wir so zerbrechlich sind.
Koziols Reim zeigt, dass dieser gerade totalitärem Denken entgegengesetzt sein kann, denn er leistet Widerstand gegen eine mögliche Diktatur des Sinns. Er ist öffnende Erkenntnis, richtet sich gegen vorgegebene Sprechweisen und übernommene Denkweisen.
Dem Kookbooksband ist ein Nachwort des Herausgebers Lutz Seiler beigegeben, das die Genese der Sammlung referiert, und er mündet in einem Text von Henryk Gericke, einer biografischen Würdigung Andreas Koziols.
Der letzte Gedichtzyklus des Bandes heißt „Besprechung eines ungeschriebenen Buchs“. Hier verlässt Koziol den Reim und nennt das Ganze dann auch folgerichtig „Wortsetzungsroman“. Er schildert darin lakonisch und in freien Versen die Situation des Dichters und vor allem seiner Umgebung in sozialen Zusammenhängen zum Ende der DDR. Darin heißt es:
So mittelmäßig war das Menschenbild
im Rahmen der öden Weltanschauung
daß einen schauerlichen Anblick bot
wer ernsthaft daran sich hängte, und
zu viele ließen sich von Galgenstricken
wenn deren Position nur hoch genug war
die Lösung ihrer Probleme versprechen.
Es scheint also Situationen zu geben, auf die man sich keinen Reim machen kann, in ihrer Enge und Ausweglosigkeit. Situationen, in denen der Reim versagt und sein Leuchten verglimmt.
Andreas Koziol: Menschenkunde. Gedichte. Herausgegeben von Lutz Seiler in Zusammenarbeit mit Hendryk Gericke. kookbooks Verlag, Berlin 2024. 80 S., 24,- €; Andreas Koziol: Mur. Mit Illustrationen des Autors. Moloko Print 2024. 96 S., 15,– €.