Den Huchs und Hauchs
Zu Fragmente einer echten Ikone von Sandra Burkhardt
Sandra Burkhardt variiert Petrarca, versetzt Petrarca, wird eine Petrarcastimme, die mit dem überlieferten italienischen Gedichtmaterial des Canzoniere im Deutschen experimentiert. Die dabei gefundene Stimme spielt im Hohen Ton mit Ausgängen auf höchstem Niveau. Dabei verblüfft nicht nur, wie dicht Sandra Burkhardts Variationen am Ausgangsmaterial bleiben, bildlich denken, sondern auch wie körperlich das lyrische Ich trotz Strenge, Maß und Proportion der Worte agiert. Wohl landen diverse Verse im Cartoonishen, oder nutzen Gebräuchliches von jetzt und heute, um die gesteckten Ziele auch oder gerade über Umwege zu erreichen. Doch macht eben dieses Unvermutete den Reiz der von Sandra Burkhardt erkämpften deutschen Variation von Petrarcas mittelalterlich geprägter Suche nach dichterischer Identität vermittels Sprache, seiner Sprachenschrauben, nach Wiesen, der Weide und Laura, Bergen, Rast und Walz aus. Das Verhältnis Burkhardts zum Original, dem Text wie der Person Petrarca, scheint nichtsdestoweniger ambivalent angelegt. Die „echte Ikone“ oder auch der „andere große Mann mit P“ (Oskar Pastior, der sich 1983 „näherte“) werden durchleuchtet, durchforstet, vielleicht aufgeforstet und neu gelichtet in Details voller Umsicht. Der große Zug, die Atemzüge der Gedichte strahlen, im Buch in melancholisches Lila gesetzt, zwar eine große Ruhe aus, halten jedoch inhaltlich-gesanglich einiges an Herzflattern bereit.
Der Lyrikband erschien im letzten Jahr bei kookbooks in einer Ausgabe, die angenehm zweisprachig aufbereitet ist: Einer Auswahl aus dem italienischen Canzoniere, in losgelöster Reihenfolge, stehen die Repliken von Burkhardt gegenüber. Ihre groß gesetzte Nummerierung, wie Seitenzahlen, fast wie eine Überschreibung, markiert die neue Reihenfolge im Deutschen. Unter den in Gänze abgedruckten Originalen sitzt jeweils deren nominelle Bezifferung, schlicht „Il Canzoniere, CXCIII“ als Beispiel. Der Vergleich, das Wägen ist Teil des Angebots von Fragmente einer echten Ikone. Das „Übersetzen und Aneignen“ von Petrarca begIeite Burkhardt, nicht zuletzt bekannt durch die erfolgreiche open mike-Teilnahme vor einigen Jahren, schon eine Weile; so die Autorin in einem Gespräch mit der Kunststiftung Baden-Württemberg anlässlich eines Aufenthaltsstipendiums im Ubbelohde-Haus, worin sie unter anderem auch dies zur Arbeit am Canzoniere sagte: „Bei dem freien Übersetzungsprozess geht es mir um die Über- und Einnahme eines Ichs, das mir das Sprechen aus einem anderen Körper, einem anderen Mund erlaubt: Petrarca-Drag.“ Dem Lila steht das in Olivgrün gesetzte Original gegenüber. Der mittelformatige Band klappt sich wie ein journalgroßes Tafelwerk auf, in Wirklichkeit sind es zwei Bücher, die sich an der Heftung treffen, zu blättern bedeutet also gleichzeitig in zwei Büchern, hiermit: Zeiten zu verweilen – nicht ganz einfach. Die künstliche Zusammenführung der Texte wird mit ihrer Gestaltung und Ausstattung unterstützt wie unterstrichen. Entfernt erinnern die Proportion und das Handhaben dieser Klapptafeln an mittelalterliche Ikonenmalerei, an auf Holz gemalte Altarbilder, transportiert in eine verkleinerte Zimmerausführung für den Leseplatz.
Im Folgenden soll eine Teilung der Leseerfahrung der Gedichte stattfinden, bei der versucht wird, Positionen, gefundene Bruchstücke, in Resonanz aufzuzeigen. „Wie sehr du auch der Welt gefällst, es ist ein kurzer Traum“, mit diesen mottoartig lesbaren Worten schließt eines der Gedichte. Es drückt dabei eine Stimmung aus, die sich durch den ganzen Band zieht. Wunderbar langsam lesbar, in einer behutsamen und doch in Zügen immer wieder mutigen Auseinandersetzung, die Reflektion mit Spielfreude zu kombinieren in der Lage ist, stellt jede Replik sich auf. Der Sprachzugriff Sandra Burkhardts mag vielleicht wie ein Kodex zu lesen sein für das Verhalten von Körpern in einem Überall, abhängig von Zeit, dem buchstäblichen „Gefallen“ in sprachwortlichen Bindungen: „schweigend trennt sich der Dichter von seiner Hand / und entfernt sich.“ Das Unmittelbare macht die Magie aus – Leser*innen befinden sich im ausgehenden Mittelalter und gleichzeitig in der Gegenwart. Den ausgewählten Originalen, die oft mit einer Menge Auslassungszeichen von Petrarca versehen worden sind (hier eine Beispielzeile: „Ivi è ’l mio cor, et quella che ’l m’invola“), sowie klaren strophischen Gliederungen wie in einem wiederkehrenden Sonett, antwortet Burkhardts Umsetzung in stabiler formaler Gestaltung, die alles Strophische aufbricht, um es in eine klar fließende Stromsilhouette zu gießen, metrisch entspannt aus dem Elfsibler wie Petrarcas eigenen Variationen im Metrum abgeleitet – „Tierisch, welch unterschiedliche Dinge ich sehe, / hasse und lese und spreche und schreibe und denke!“ – und die voller strukturierter Saftigkeiten ist in ihrem Spiel mit dem Hohen Ton – „dass ich fast untreu der Geliebten / würde mit mir selbst.“ Diszipliniert angefertigt, folgt Burkhardts Übertragung auf der einen Seite den Rhythmen, Auslassungen in der Silbenarbeit, den Sprödigkeiten, ist aber jederzeit bereit, in die Variation, den Dialog mit dem Jetzt zu treten – Innenschauen eines sich auf Wanderschaft begebenden Ichs. Bestätigungen von Seinsspuren, gesucht und gefunden zwischen Bergen, Sonne und Weide. Starke Klänge und Melodien in den Syntaxbögen lauscht Sandra Burkhardt dem Original ab – oder werden sie dem Original in den Weg gelegt? Wer hat wen übersetzt und wann ist das geschehen? „Der Andere, / und das bin ich“. Binnenreime, sparsame Verteilung aller Mittel und zutrauliche Rhythmen machen die Texte zu ausgewogenen Happen, die besonders durch ihre Sequenzierung Lebendigkeit gewinnen. Ihre Fortdauer, auch Erfahrungen der Stimme vermitteln sich erst im Blättern. Leser*in selbst ist auf der Wanderschaft, verweilt, wo nötig, am immer wieder „Ausgestreuten“. Oder in süffisanten Bosheiten wie: „nackt, / so viel Scham wie Laken, ein Jüngling mit Flügeln, / Gorgonzola mit Knoblauch: nicht gemalt, sondern wirklich.“ Oder den Zugewandtheiten wie das sehr runde dreizehnte Gedicht, in dem sich Amor, die Oma, Madonna, Schreiben, Licht, Fenster und Weinen einen Platz zum Lesen teilen. Verschiedene Situationen werden durchgespielt, „und Zöpfe ich mir umlege / wie verbotenes Gold“, „hier regiert die Queen, Amore!“, mit den Überraschungen, die dem Sprachsystem Sandra Burkhardts entspringen. Sogar die Selbstreflektionen der Variation oder die satten Fehlübersetzungen dieses Petrarca im Canzoniere finden ihren Ort im Fluss: „doch das ist nicht mein Terrain. Törö! Es gibt einen Grund, / warum der Humor dieses Steins dem meinen nicht gleicht. / So folge ich einem anderen“. Philosophische Betrachtungen können darin ebenso gut zur Sprache kommen: „ein Urteil ist weder zu überdenken noch zu wiederholen / und zur Wahrheit tragen auch Versagen und Sprache nicht bei“. Ein Gedicht weiter heißt es: „denn ein insolventes Unternehmen ist es / zu lieben und zu dichten“. Die Sprechstimme agiert bisweilen fast wie eine zeichentrickartig verzerrte Person, die herumzieht, sich einiges zuzieht, sich aber vom „Schief- und Freisingen“ nicht abbringen lassen will, selbst ein Wort wie „Hypochondersprech“ fügt sich gar nicht so schief in ihr ton-hybrides Variieren hinein. Jene Figur bezeichnet sich auch schon einmal als „nun Geteilter und Verteilter“, schwankt zwischen Jubilieren und Selbstzweifeln als liebende, vor allem dichtende Person: „was mir hier bleibt, ist ein Sprechen / als Beteuern. Seht Ihr denn nicht die Herzchen in meinen Augen?“; „dann bin ich eine dieser, der unsrigen Diven, / die widerwillig den zweiten Platz annehmen.“ Sie nennt eine „Gesangsmaschine“ ihr Eigen, die sich „in Gang setzt“ mit dem hineinbrechenden Abend und in Flapsigkeit eintaucht: „– bin ganz abgelenkt / vom eignen Geschwätz: Wer jetzt? / Sie mit ihr oder ich als er? Und wer war nochmal wer? / Ich bins, die, der es immer so schön aus dem Gesicht spritzt“. Die vielen direkten Ansprachen an Amor ent-mythifizieren dessen Rolle als Initiativmoment des Dichtens hin zu einem Anflug von Genervtsein, weil nicht aus diesem Impetus herauszufinden ist: „bis das Denken selbst das Gedicht / verschluckt, wenn ich es versage: / Schuld ist Amor, defekt noch nicht die Kunst, / denn der macht mich dumm.“ So drängt sich ein artiges Resignieren angesichts von Situation und Original in den Endspurt: „Töricht ists / und toll, mit aller Gewalt das Tönen immer wieder zu versuchen.“
Sandra Burkhardts konzepthafte Übertragung birgt eine Menge erstaunlicher Früchte. Das Experimentieren im Hohen Ton gelingt, weil es in der Lage ist, nicht auf Ironien oder Verzerrungen auszugleiten oder dauerhaft ins Karnevaleske abzudriften. Stattdessen erschafft die deutsche Versetzung viele überaus aufrichtige, sprachlich hülsenlos bis tapfer-streitbare Variationen von Petrarcas poetischen Sprechakten, rund und dicht an den Gefühlen, die im Originalgedicht zum Ausdruck kommen, wie die punktierte, vom Pfeil versehrte Replik Burkhardts auf Seite 32 zu Il Canzoniere X, das in Gänze zitiert sein soll als Vertretung für den reichhaltigen Band:
Glorreiche Kolonnaden, unter die sich
unsere Hoffnung legt, und so viele Säulen,
die sie tragen und sich nicht krümmen
vor Sturm, Wut und anderen Schwällen.
Hier gibt es keine Paläste, keine Theater und Loggien,
am scharfen Lorbeer aber eine Tanne, eine Bohne, eine Pinie
und ein schöner Berg daneben,
von dem man dichtend hinuntergeht und der
selbst die Kolonnaden stützt.
Wir, Liebesgedanken tragend,
gehen ganz süß im Schatten und sind traurig,
aber: so viel schöne Sonne zwischen den Stämmen
trotz Euch, der Ihr Euch von uns abwendet.
Sandra Burkhardt. Fragmente einer echten Ikone. kookbooks Berlin 2024