Verletzte Übergänge

Verletzte Übergänge

Abdalrahman Alqalaqs deutschem Debüt Übergangsritus ist eine Charakterisierung seines Vaters vorangestellt: „tapfer genug gelebt […] um sich dann stumm vom Chaos des ungerechten Lebens zurückzuziehen“. Des Vaters ‚Übergang‘ vom Leben zum Tod ist nur eine von verschiedenen, sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich gemeinten, teils gewollten, teils ungewollten Veränderungen, die das Leitmotiv des Bandes bilden und zu dem unterschiedliche Rituale präsentiert werden. So stoppt die Mutter jede Nacht die „Wanduhr“, damit die Zeit gemeinsam mit dem Tod des Vaters still „nachts im Haus steht“. Auch das Leben selbst und das Schreiben als Selbstausdruck sind für Alqalaq Gebräuche des Übergangs.

Die in der Widmung formulierte Idealvorstellung eines verantwortungsbewussten, ‚tapferen‘ Lebens wird im Auftaktgedicht mit einer harten Anklage kontrastiert: „Ich weiß, dass alle auf meine Wunden spucken werden, wenn ich sie / benenne“.  Als Anschuldigung wirkt dieser Vers allerdings nur, weil man sich als Lesende durch das kollektive „alle“ angesprochen fühlen kann. Im arabischen Originalgedicht steht vor „alle“ hingegen das Pronomen „sie“, was diese Gesamtheit einschränkt und sich an eine bestimmte Gruppe von Menschen zu richten scheint:

أعرف أنهم سيبصقون على جراحي جميعاً، إن سميتها

Die Anklage selbst bezieht das Lyrische Ich auf das Benennen der eigenen Wunden, das „[sie] alle“ nicht respektieren würden. Es ist, als dürfe das Ich seine Verwundung vor manchen nicht offenlegen, als sei das Sprechen darüber vergebens und führe sogar zu einer zusätzlichen Verletzung. Im Gedicht wird nahegelegt, dass diese Wunden im Krieg geschlagen wurden – „Von keinem Krieg, in dem ich meine Wunden benannte, blieb ich / verschont“ –, doch zugleich erscheinen sie als etwas Ursprüngliches, das allen Kriegen vorangeht.

Abdalrahman Alqalaq, geboren 1997 in Jarmuk, dem größten Flüchtlingslager für Palästinenser, das 1957 am Rand von Damaskus errichtet worden ist, ist ein palästinensischer Dichter, Schriftsteller und Performer, der zurzeit an der Universität Hildesheim und an der Université MV in Rabat Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit Schwerpunkt Theater und Literatur sowie Kulturpolitik studiert. In deutscher Übersetzung erschienen bisher fünf seiner Gedichte bei Weiterschreiben.jetzt, einem Portal für Literatur aus Kriegs- und Krisengebieten. Übergangsritus, eine der diesjährigen Lyrik-Empfehlungen, ist sein erster Band in einer Übertragung ins Deutsche, die von Günther Orth, Leila Chammaa und Sandra Hetzl gekonnt vorgenommen wurde. Unterstützt wurde die Publikation durch ein Chamisso-Stipendium sowie den Schriftsteller und Verleger Michael Krüger, der auch das Nachwort verfasst hat. Neben Alqalaqs ursprünglich auf Arabisch publiziertem Lyrikdebüt „vierundzwanzig“ (Honna/Elles Publishing House, Kairo 2022) enthält Übergangsritus auch die titelgebende, autobiografisch geprägte Erzählung von knapp 30 Seiten, die das zentrale Thema auch der Gedichte entfaltet.

Die erste der zehn Episoden von „Übergangsritus“ setzt mit einer Reise ein, vor deren Antritt der Erzähler und zwei weitere Reisende ihre „Persönlichkeiten austauschen, als wären sie Kleidungsstücke“, als wäre es schnell und einfach, Hinweise über ihr altes Leben „innerhalb einer Stunde […] verschwinden zu lassen“. Bei der Reise handelt es sich nämlich um eine Flucht in die Türkei über die damalige Hauptstadt des IS-Territoriums in Nordsyrien ar-Raqqa (2014-2017). Die Episoden sind durch wiederkehrende inhaltliche Elemente miteinander verbunden; thematische Überschneidungen sowie lyrische Formulierungen – z.B., wenn die Großmutter von der Trauer eines Baums über den Tod dessen spricht, der ihn gepflanzt hat – schaffen einen Zusammenhang mit den der Erzählung vorangehenden Gedichten.

Neben der verstorbenen Großmutter und der in der Heimat zurückgelassenen Mutter begegnen den Leser*innen in Alqalaqs Prosa- und Lyrikband noch viele weitere Frauenfiguren: im Reisebus zum IS- Territorium sitzen gleich „sieben ältere Frauen mit tätowierten Zeichen auf der Stirn. […] Bäuerinnen vergessener Dörfer“. Auch einer in Mannheim gemachten Bekanntschaft namens Tatiana ist ein Gedicht gewidmet. Eine Auseinandersetzung mit bestehenden Geschlechtervorstellungen findet sich nicht nur in den Frauenporträts, sondern auch in Alqalaqs kritischer Betrachtung eines auf Gewaltbereitschaft basierten Männlichkeitskonzepts sowie seinem bewusst gesetzten Hinweis auf eine „patriarchalische Kriegsmaschinerie“. Diese Kritik ist vielleicht ein Grund, warum sein arabisches Lyrikdebüt bei dem feministischen ägyptischen Verlag Honna/Elles Publishing House erschienen ist.       

Alqalaqs Erzählung und Gedichte sind Zeugen historischer Ereignisse an Orten, mit denen die Familiengeschichte des Autors eng verbunden ist: von den palästinensischen Flüchtlingslagern Tel al-Zaatar im Lebanon und Jarmuk im syrischen Damaskus, zu Gaza im Jahr 2009, wo der Erzähler als Kind jeden Abend vor dem Fernseher gewaltvollen Szenen ausgesetzt war, während die Familie darauf achtete, ob in der Berichterstattung Verwandte unter den Opfern waren. Und zu Gaza aktuell fragt sich die lyrische Stimme im Gedicht „Alles war für nichts“: „Wie spricht man über eine Vergangenheit in einer Gegenwart, die / gar nicht anders ist?“

Alqalaq gelingt es, mit einprägsamen Beschreibungen die emotionale Last der Flucht begreifbar zu machen: „Er rannte zurück ins Meer, als wollte er mit dem kleinen Messer das Meer erstechen“. Seine Texte reflektieren über den Versuch eines Neuanfangs, ohne ihn zu romantisieren:

Geschichte ist an diesem Ort offenbar abwesend, verbannt hinter einen elfenbeinernen Vorhang, schattenlos. […] Du nimmst das Leben ernst, folgst ihm wie ein Prophet, verhöhnst den Tod, weil er nichts ausrichten kann gegen Rettungshubschrauber und Schrittmacher in Herzen, erschöpft von der Maskerade des Wohlstands und einer menschenfeindlichen Moderne.

Übergangsrituale sind auch Versuche, die Vergangenheit und die Verlorenen zu ehren, und sich dennoch dem Leben zu öffnen. Das Lyrische Ich stoßt allerdings auf wenig Verständnis für seine Verluste: „Es tut uns leid, dass unsere Toten im Internet so viel Lärm verursachen. Es war uns nicht vergönnt, eine Sprache zu erlernen, / in der man eleganter sterben kann.“ Diese Zeilen sind beispielhaft für das „verzweifelte Gespräch“, das die Kritikerin Insa Wilke in den Gedichten des Bands erkennt. Gleichzeitig enthält er jedoch Impulse für einen gelingenden Dialog, der dem gefürchteten „Smalltalk“ über „Syrien / als ginge es um ein versunkenes orientalisches Reich“ entgegengesetzt ist: ein Gespräch zwischen unterschiedlichen ‚kulturellen Gedächtnissen‘ (Aleida Assmann).

Selbstironisch, mit zwei Sprachen spielend, erklärt das lyrische Ich in einem Gedicht vor seinem Spiegelbild: „Mein Name ist Alqalaq und bedeutet ‚Unruhe‘ / Manchmal nenne ich mich auch al-Araq, das heißt Schlaflosigkeit.“ Einer Stimme, die sich nicht vor Selbstironie scheut, traut man zu, dass sie bei aller Kritik die Selbstkritik nicht vergisst. Derartige Perspektiven sind gerade in der aktuellen Krisenzeit vonnöten.

Abdalrahman Alqalaq: Übergangsritus. Gedichte und Prosa. Aus dem Arabischen von Günther Orth, Leila Chamaa und Sandra Hetzl. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 98 Seiten, 22,– €. (D) / 22,70 €(A).

Marit Heuß – Verschlissenes Idyll

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