Wohin mit dem Ich?

Wohin mit dem Ich?

Zu Nun wird es hell und du gehst raus von Jürgen Theobaldy


Der Kritiker sitzt schreibend am Laptop, die LeserInnen sitzen lesend vermutlich auch am Laptop. Sie wollen aber etwas erfahren über ein gedrucktes Ding, in dem man blättern kann, dessen Seiten reißen können, bzw.: Der Kritiker muss etwas darüber sagen, urteilen. Natürlich tippt er. Was nicht passt, wird gelöscht, das geht zack zack, aber am Ende hält er nichts in der Hand. Das ginge nur bei der „Arbeit mit Papier“, welcher der Dichter Jürgen Theobaldy ein Gedicht widmet: 

Aus jedem Gedicht kannst du

eine Schwalbe machen.


Du musst es aber richtig falten.


Aus jedem Gedicht, hörst du,

auch aus dem missglückten.


Nun denke dir den Himmel dazu.

Kein Versuch ist völlig vertan. Willst du weitermachen, nimm das Scheitern leicht. Auch, wenn der Text selbst missglückt, man sich das Gedicht verbaut, kann man seine Grundlage, das Papier, zum Fliegen bringen. Das Gedicht spricht so etwas wie eine ungeahnte Selbstverständlichkeit aus und fordert aufzusehen ins Offene, zumindest mit dem inneren Auge. 

Das passt zu dem Titel, den Theobaldy seiner Sammlung von ausgewählten Gedichten — es sind mehr als zweihundert — gegeben hat: Nun wird es hell und du gehst raus. Der Band verzichtet auf eine Einleitung oder ein Vorwort. Zwar stellt sich im Inhaltsverzeichnis heraus, dass alles chronologisch geordnet ist, und es gibt auch einige Kommentare hinten im Buch, die erklären worauf dieser und jener Vers anspielt; ganz am Ende findet sich dann auch noch ein Nachwort des Literaturkritikers Helmut Böttiger. Dennoch: Der Aufbau des Bandes legt nahe, ohne Vorwissen einfach loszulesen. 

Theobaldy debütierte 1973, keine 30 Lenze alt, mit Sperrsitz in der Kölner Palmenpresse; die ältesten Gedichte des vorliegenden Bandes stammen aus Blaue Flecken, ein Jahr später im großen Rowohlt-Verlag erschienen. Die neuesten Gedichte in Nun wird es hell… waren vorher noch unveröffentlicht. Die Auswahl aus 16 Publikationen wurde vom Dichter selbst zusammengestellt. Er war, laut Böttiger, zeitweise in den Siebzigern der „meistzitierte Wortführer der deutschen Lyrik“. Das lag unter anderem an seinem Text „Das Gedicht im Handgemenge“, in dem Theobaldy sich gegen das Bedürfnis nach dem hohen Ton richtet, Formspielereien ablehnt, aber auch den (wie auch immer gearteten) Agit-Prop-Muff der politisierten Literatur nach 68 hinter sich lassen möchte. 

Für Böttiger ist das eine „Befreiung“, gleichzeitig hat dieses Verständnis von Literatur ihm zufolge auch etwas „Subversives“. „Neue Subjektivität“ jedenfalls ist das feuilletontaugliche Schlagwort, unter dem doch recht unterschiedliche Autorinnen und Autoren zusammengefasst wurden, denen es in ihrer Literatur um den Alltag, die beiläufige Wirklichkeit geht, die in Worten klar gefasst werden will, und sich so von den experimentelleren Schreibweisen der Moderne verabschiedet.  

Die vorliegenden Gedichte von Theobaldy umspannen mehr als 50 Jahre Wortarbeit. Der Theobaldy kam 1944 in Straßburg zur Welt, wurde in Mannheim als Arbeiterkind sozialisiert, verbrachte einige Jahre in Heidelberg, Freiburg, Köln, u. a. mit dem Studium, ging schließlich 1974 nach West-Berlin, in einer Epoche, als alles politisch sein sollte. Zehn Jahre danach wanderte Theobaldy aus in die Schweiz, wo er seither lebt und viele Jahre als Parlamentsschreiber arbeitete.

Wie er zum Schreiben kam, darauf gibt er Hinweise in einem Gedicht, das sich recht weit vorne im Band findet und programmatisch heißt:„Mein junges Leben“. Es setzt ein mit den Zeilen

Ich will so groß werden

wie die Männer, wenn sie die Daumen

an den Hosenträgern reiben. 

Der Rauch aus den Zigarren mischt sich 

mit dem Staub abgerissener Ruinen

und den blauen Schwaden der BASF

die von Ludwigshafen herüberziehen. 

Auf dem Messeplatz spannt die Traber-Familie

ein Seil von Haus zu Haus und zeigt, wie man grazil

über die Nachkriegsjahre kommt. 

Die Grammatik dieses Gedichts ist nicht gerade kompliziert. Unergründlich scheint die Metaphorik auch nicht. Aber in dieser anfangs kindlich wirkenden Perspektive stecken historische Beobachtungen und mehr noch, es schaudert einen geradezu, bedenkt man, dass die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF) als Teil der I. G. Farben Kampfstoffe herstellte, Zwangsarbeiter sich zu Tode schuften ließ. Theobaldy kontrastiert die „blauen Schwaden“ mit dem (bonzigen?) Zigarren-Rauch und schreibt sich aus dieser schweren Luft weg zur ältesten Artisten-Familie Deutschlands, den Trabers, die bereits vor Hunderten Jahren als Seiltänzer, In-der-Luft-Geher ihr Geld verdienten. 

Theobaldys Gedichte bestimmt oft ein Blick von unten. Arme, an den Rand Gedrängte tauchen auf und wieder unter. Statt ideologisch, das heißt von außen, alles einzuordnen, sucht er nach Spuren gelebten Lebens, von Arbeit und vertaner Zeit. Immer wieder findet er Bilder, in denen er die Flüchtigkeit des Tuns und Strebens mit konkreten gesellschaftlichen Missständen verknüpft. Einige Zeilen aus „Sommer vorbei“ können das verdeutlichen:   

Vor fünfzig Jahren nahm das Dienstmädchen

die Blätter mit spitzen Fingern weg. 

Von ihm ist nur der Dienstbotenaufgang geblieben, 

der Riegel und die Kette an der Tür, 

dazu diese Kammer ohne Heizung. 

(…)

Der Herbst ist eine poetische Erfindung. 

Es fiele mir nie ein, hier zu schreiben, 

wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. 

Die Absage an die Aussage des letzten Verses aus Rilkes kanonisiertem, beinah totzitiertem Gedicht „Herbsttag“ vermittelt nun, dass man sich symbolische Überhöhung in den dürftigen Zeiten der alten BRD sparen soll: im Angesicht realer Armut tritt metaphysisches Leid in den Hintergrund.

Theobaldy stichelt aber nicht gegen die Tradition. Unter anderem wird Georg Trakl mit einem Gedicht bedacht. Frank O’Hara, der früh verstorbene New Yorker, spielt eine Rolle in dem finalen Gedicht des Bandes, also vermutlich dem jüngsten, das auch eines der längsten ist. Theobaldy hat als letzter Rolf Dieter Brinkmann lebend gesehen, sie waren 1975 zusammen in England, und auch der Furor Teutonicus aus Köln findet Platz in dieser Lyrik. Alle diese Namen aber sollen nicht andeuten, dass es um Bildhungshuberei oder literaturhistorische Kumpelei ginge. Bedächtig und ernst, aber nicht verbissen ist die Menschen- und Weltbetrachtung des Dichters. Aus der Gruppe der späten, vorher unveröffentlichten Theobaldy-Poeme beantwortet das „Pinselgedicht“ auf charmante, gravitätische Art, dabei höchst subjektiv eine große Frage: 

Was mir die Zeit ist?

Ein Sommertag im Gras

Hinter dem Tempel

Und das Glöckchen dort so fein

Dass es mich nicht weckt 

Das Gedicht korrespondiert mit den Tankas, die Theobaldys Japan-Reisen festhalten – feinen Gebilden, die sich abstrakten Wahrheiten verweigern. Theobaldy geht in seiner Lyrik, über die Jahrzehnte hinweg, kleinen sinnlichen Beobachtungen nach und versucht mit der Sprache, die ihm Helferin ist und nichts zum Zertrümmern, im Gedicht etwas Vorübergezogenes — einen Menschen, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Landschaft — sacht festzuhalten, ohne alles bis ins Letzte auszusprechen. Das braucht, bei aller Gesellschaftskritik, die sich gut aus diesem Werk destillieren lässt, ein Vertrauen in eine tiefe Verbundenheit zwischen Außenwelt, Dichter-Ich, Sprache und einem Du, das jedes Gedicht voraussetzt. 

Die „Neue Subjektivität“ Jürgen Theobaldys ist den menschlichen Zusammenhängen zugetan und bemüht sich, jegliche Nabelschau hinter sich zu lassen. Um Dringlichkeit herzustellen, bedient er weder lexikalischen Furor noch syntaktische Akrobatik, sondern vertraut den einfachen Mitteln. Die Gedichte hallen nach, das Gesagte, Bilder bleiben, geben Fragen auf. In Schulbüchern lernt man, diese vorgeblich lax gebrochenen Zeilen von Theobaldy und seinen Zeitgenossen wie Brinkmann oder Nicolas Born, würden einen „Parlando“-Ton erzeugen. Parlando mag leicht bedeuten, geschwätzig ist es in diesem Fall aber sicher nicht. Hinter klaren Szenen lauert durchaus eine Abgründigkeit, wie etwa in „Leichte Kavallerie“ aus dem Band Immer wieder alles aus dem Jahre 2000: 

Hinter seinem Stirnbein toben

die Schlachten, denen es entkam.


Mit einer Handvoll Gräsern

lockst du es weg vom Gras.


Legst du ihm die Hand auf

zwischen seinen Augen,


fühlst du die Schädelstätte,

auf die es blickt.

Nun wird es hell… erlaubt uns eine Spielart der Lyrik zu erinnern oder kennenzulernen, die ohne Kunstgriffe nach Rezept dabei hilft, präformierte Perspektiven auf den faden Alltag abzulegen und Spuren von gelebter Geschichte, Gewalt, menschlichem Miteinander und Gegeneinander, Schönheit zu erkennen. Es ist alles nicht so festgefahren, wie man meinen könnte. 

Jürgen Theobaldy: Nun wird es hell und du gehst raus. Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort von Helmut Böttiger. Wallstein, Göttingen 2024. 293 S., geb., 29,– €.

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