Revolution machen mit der Vagina

Revolution machen mit der Vagina

Zu Meine Vagina von Galina Rymbu

Die russische Lyrikerin & Aktivistin Galina Rymbu gehört zu einer jungen, queerfeministisch, radikal gesellschaftskritisch orientierten Autor*innengeneration, die sich offen gegen den Putinschen Autokratismus stellt. Seit 2018 lebt sie im ukrainischen Lviv.

Mit Meine Vagina erschien im Verlagshaus Berlin erstmals ein Auswahlband ihrer in Zyklen angeordneten Langgedichte aus den Jahren 2015-2022 in deutscher Übersetzung.

Rymbus Gedichte sind oft konfrontativ, immer politisch. Sie verschränken persönliche Erfahrungen mit Systemkritik. Sie verweigern sich patriarchalen Normierungen, setzen dem autoritären Druck poetischen Widerstand entgegen. Ihre Verse sprechen von Marginalisierung, Verfolgung, Missachtung von LGBTQ+-Rechten, vom Überleben & öffnen gleichzeitig Räume der Utopie.

Rymbu denkt Poesie politisch als Mittel der Dissidenz, der Dekonstruktion des Bestehenden, befeuert sie mit Einflüssen von Riot Grrrl, Gopniki, Trash-Ästhetiken, Judith Butler, Paul B. Preciado, Kathy Acker oder Sarah Kane.

Bereits das Eröffnungsgedicht „meine vagina“, titelgebend für den Band, setzt den Ton. Es beginnt mit der Geburt des eigenen Kindes, schildert die desaströsen Zustände in der Geburtsklinik & entwickelt sich zu einer sprunghaft verschachtelten Collage aus Mini-Manifesten, Körper-Bekenntnissen & Revolutionsphantasien. Mal radikal-subjektiv, mal vielstimmig kollektiv mixt sie queeres Aufbegehren, Selbstermächtigungspraxen, politische Anklagen, dabei durchdrungen von Gefühlen wie Zorn, Trauer, Wut, Scham, aber auch Zärtlichkeit. Das Gedicht mündet in eine utopisch-eruptive Lobpreisung der Vagina, die den „illegitimen präsidenten vertreibt, die armee abschafft, Strukturen der Unterdrückung & Erniedrigung beendet - ein ekstatischer Furor, um nichts weniger als das Patriarchat zu „zerficken, den „todesstern des patriarchats.

ich lebte in der welt der schulliteratur, alles gesehen durch einen männlichen blick,

in einer welt von bandenkämpfen im viertel und treppenhäusern, voller schwitziger

typen mit schwarzen jacken und abgerissenen stiefeln. ich liebte es in der hocke zu sitzen, liebte

knallenge jeans, die meine klitoris drückten

meine großen lippen.

Ein Großteil der Gedichte kreist um Rymbus Kindheit & Jugend in den chaotischen Transformationsjahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Mit präzisem Blick für Details loten sie den gesellschaftlichen Verfall aus: Gangstertum, Mafiastaatlichkeit, Massenverarmung, Deindustrialisierung, neoliberale Schocktherapie, grassierende Korruption, die blutigen Tschetschenienkriege, den zynisch ausgelebten Materialismus einer neuen Klasse von Superreichen - schließlich den autoritären national-imperialen Backlash unter Putin. Eine Zeit, in der sich das Soziale in Auflösung befand, das Leben aus den Fugen geriet, Alltag sich nur um das Beschaffen von Essbarem drehte. Ganze Gedichte wie „strophen für essen“ erzählen vom Hunger, der nicht nachgibt, allgegenwärtig ist, unerbittlich das eigene Begehren, das Leben in der Mangelgesellschaft prägt.

träume aus hunger, angemacht mit hoffnung,

einsamkeitsschärfe in zu kurzen schlafphasen,

gemeinschaft auf jedem leeren teller,

suppenkelle, die angst schöpft.

Diese Poetik des Hungers imaginiert groteske Gelage, fantasiert über essbares Mobilar, erfindet absurd überspitze Gerichte („kummersuppen / mit aschegewürz / mit gasgeruch“). Ein großes Fressen, das alles verschlingen will, sogar den Tod, & mit „moskauer pappbrot“ abgespeist wird. Selbst vor dem eigenen Schreiben macht der Hunger nicht halt: du schreibst, was du isst.

Der Omnipräsenz des Hungers folgt die Omnipräsenz des Blutes, der Gewalt. Überall fließt Blut, „eiter, schmerz und blut“, von „blutstrophen“ ist die Rede, von „blutgefüllten augen“, davon, dass alles komplett im Blut steht.

Der folgende Zyklus kosmosallee fokussiert sich auf die Milieus sozialer Verrohung: auf kaputte Wohnverhältnisse im Brutalismus der Plattenbauten, depressive Episoden, die sich in ihnen abspielen, die „verwilderten teiche und paläste / der vorstadtsupermärkte“, durch die „särge aus zwei kriegen“ getragen werden, die „freudlosen fabrikhallen“, durch die „der abendliche smog“ zieht, das hohle Pathos im Wort Kosmos, das einst für die Eroberung des Weltraums, die Zukunftsmythen des Sowjetkommunismus stand. Eine Kulisse des Verfalls, die alles, selbst das eigene Blut mit Fäulnis infiziert, in eine verwahrloste Aura hüllt.

„ich habe meinen ersten freund gesehen“ eröffnet eine Reihe von Gedichten, die sich wie Short Storys lesen. Rymbu begegnet ihrem ersten Liebhaber, der jetzt „aufseher in einer strafkolonie“ ist. In Rymbus Kopfkino oszillieren Vorstellungen von Häftlingsschikanen, Erinnerungen an die erste Liebesnacht, an ihre kurz geschnittenen Haare, um „genderundefiniert“ zu sein. In der Nachzeichnung einer ausglühenden Liebe verdeutlicht Rymbu zugleich die politische Entwicklung Russlands in den 2000er Jahren.

Demgegenüber verkörpert „der mann aus neftejugansk“, ein Sandkastenfreund, der aus Omsk (Rymbus Heimatstadt) nach Moskau reist & „der in seiner karierten tasche eine bessere welt“ trägt, die Möglichkeit von Freundschaft jenseits von Gewalt & Systemanpassung.

Höhepunkt der narrativ angelegten Gedichte ist „auf dem gelände des heizkraftwerks nr. 5 machten wir ein feuer von verboten großem ausmaß“. Wie in einer hemingwayschen Nick-Adams-Story beschreibt Rymbu eine Episode mit ihrem Vater. Gemeinsam suchen sie auf einem Industriegelände nach Kupfer, entzünden ein Feuer, um das Gummi von den Kupferkabeln zu lösen. Als die Feuerwehr anrückt, tischen sie eine rührselige Geschichte auf. Von den Kupfererlösen kaufen sie Süßigkeiten & Alkohol. Für einen Moment ist alles gut, alle sind ausnahmsweise mal glücklich, „mit schwarzem mund und schwarzen händen“.

Rymbu spart nicht mit drastischen Bildern & Szenen. Die Gedichte changieren zwischen intimer Erzählung & politischer Klage, zwischen Bekenntnis, Analyse & Manifest, spiegeln assoziativ montiert eine postsowjetische Realität & das eigene Gefühlschaos wider. Immer wieder steht die Ohnmacht im Zentrum, das Eingesperrtsein im eigenen Körper, im eigenen Land, in den Grenzen der Sprache. Raum & Zeit verschränken sich, das Ich wird zur kollektiven Stimme voller Rebellion, Sehnsucht & Ermüdung.

Gerade die ersten beiden Zyklen rauben den Leser*innen buchstäblich den Atem, ob all der Komplexität & tiefen Durchdringung, die zugleich poetisch & roh, selbstermächtigend & vulnerabel ist, die durch waghalsige Fragmentierung & harte Schnitte evoziert wird.

In den späteren Gedichten klingt neben all dem Fiebrig-Vibrierenden zusehends auch ein elegischer Tonfall an, eine fragile Zärtlichkeit zwischen Ablehnung von repressiver Realpolitik & utopischen Gegenbildern. „alle präsidenten sind verrückt“ schreibt Rymbu & sucht die Vision von anarchistischen Kommunen & Forderungen nach allumfassenden Veränderungen zu behaupten: „unser kampf ist nebenan, // zärtlichkeit wächst überall“.

Doch droht das Utopische immer wieder ins Resignative, ja Fatalistische zu kippen: „wofür haben wir gekämpft? wofür all diese gedichte?“

Auch Liebe bietet weder Erlösung noch Rückhalt: „aber wenn ich dich liebe / spüre ich: nur eine wüste.“ Vorerst bleiben nur Nacherzählungen der „bisse und knutschflecken unserer toten liebhaber.“

„es gibt noch nicht mal einen feministischen mini-aufstand im privaten“, konstatiert Rymbu desillusioniert. Überall scheinbar nur „wege des rückzugs - aber es geht nirgendwohin“. Stagnation & Erstarrung, Klassenselektion statt klassenlose Gesellschaft, Repression statt Freiheit. Ein System, das nur Lügen hervorbringt, in einer bleiernen Zeit des Ausverkaufs, wo „studierende auf allen vieren in der dunkelheit knien.“

sie vergewaltigten dich, während du die biografie Lermontovs exzerpiertest

sie werden dich töten und auf die schienen werfen.

In dem Gedicht „die beleidigung des staates ist unsere eigentliche aufgabe“ wird Rymbus Aktivismus noch mal lautstark aufgerollt gegen Willkürjustiz, staatliche Gewalt. Ein kämpferisch-anklagender Text, der von queerfeministischem Anarcho-Kommunismus, „queeren menschenengeln“ oder Butch-Pandabärinnen träumt, der in der Beantwortung der Frage, „was soll poesie“, selbstbewusst die Machtfrage stellt und zumindest die „beeinflussung der gefühle“ geltend macht: „steh auf, Lesbia! … steh auf, geliebte, selbst wenn die sache auf den tod geht…“.

In „die weber*innen“ hingegen steigt Rymbu in den Turbinenraum der Nacht, zu den Webstühlen, wo schon wieder 14 Jahrhunderte gewebt wurden, & spannt ein liturgisches Traumspiel auf.

mutter, ich habe angst, am rand der nacht zu stehen,

vater, ich habe angst, am dicken rand der nacht zu fliegen,

zu denen, die keinen ausgang aus der nacht finden…

Dieser Zwiespalt zwischen Aufbegehren & zweifelndem Innenhalten erzeugt eine existentielle Tiefe, führt vermeintlich Fragmentiertes zu einer großer poetischen Erzählung zusammen, erinnert in den Anwandlungen düsterer Aussichtslosigkeit an Die Reise nach Petuschki, wenn W. Jerofejews trunkenes Alter Ego sich endlich am Ziel seiner Reise wähnt & wehklagt: „Die Finsternis wird nicht aufhören, Finsternis zu bleiben.“

Ein Zwiespalt der die bittersten Ambivalenzen von Partnerschaftlichkeit, ihren Projektionen auslotet.

der, der gestern deinen körper nahm und

damit die erde lockerte,

ist jetzt verwirrt, weiß nicht mehr wer du bist,

steht an der schwelle, lauert,

den mund voll gestopft mit bosheit.

Das abschließende Gedicht „stufen (frühling, 2022)“ thematisiert den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: „abend. alle kapellen offen. wird in ihnen gebetet // für einen iron dome?“

Der Versuch, sich bis zur Sperrstunde etwas Normalität zu bewahren, während der Sohn nur töten will: „im scherz, im ernst / im spiel, in echt / russische soldaten töten.“

Es ist die bittere Erkenntnis, dass der Krieg nicht 2022 begonnen hat, dass er eine blutige Vorgeschichte hat, an vorherige Kriege anknüpft, dass nahezu alle Gedichte Rymbus vom Krieg handeln, vom Scheitern ihn zu beenden. Alles scheint zu erlöschen. In der „nacht, in der raketen fliegen“, die Lebenden schreien, wird Schreiben zum Luxus, genauso wie Atmen.

Die Dringlichkeit & Virtuosität, mit der Rymbu ihre Verse in die Waagschale wirft, sind einzigartig. Ohne Sicherheitsnetz beanspruchen sie alles zu wagen, werfen sich ins Offene, erheben sich freischwebend ins Utopische, bluten aus im Aufbegehren, im Gefühl des sich Befreienkönnens, um sich aus Resignation wieder aufzurichten, nicht lockerzulassen.

Zweifelsohne zählt Galina Rymbu zu den beachtenswertesten Stimmen der internationalen Lyrik.

Galina Rymbu: Meine Vagina. Gedichte (Deutsch – Russisch), Übersetzungen von Tillmann Severin. Illustrationen von Moana Vonstadl. Verlagshaus Berlin, Berlin 2025. 304 S., br., 24,90 €. 

Wohin mit dem Ich?

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