Die Mutter aller Löwen. Silke Scheuermanns neueste Kulturreflexion
Rosa-weiß, leicht, mit zartem Stoff überzogen, und auf dem Cover ein aufgerichteter Löwe neben einer sitzenden Frau: Silke Scheuermanns neuer Gedichtband Zweites Buch der Unruhe scheint auf den ersten Blick sehr feminin – oder feministisch. Die weiblichen Figuren, die in einzelnen Gedichten auftreten – etwa Eva, Barbie und Scheherazade – verlieren sich aber schon bald hinter den zahllosen anderen Motiven des Bandes. Dieser bildet vielmehr eine raumgreifende Kulturreflexion in sehr leichtfüßigem, vielleicht etwas leichtfertigem Gewand.
Kontingente Arrangements
Als Vorreiterin des nature writing gefeiert, macht Silke Scheuermann in ihrem neuen Gedichtband vor allem die Kultur zum Sparringspartner des lyrischen Subjekts. Kulturelle Erbschaften und tradierte Strukturen, technische Errungenschaften und künstliche Phänomene, die sich die Menschheit geschaffen hat oder erst noch schaffen wird, werden in einem breiten Spektrum zitiert, variiert und miteinander verknüpft. Einige Gedichte verbinden historische mit modernen Phänomenen, schreiben traditionelle oder mythologische Geschichten und Figuren um, indem sie diese in Zeitgenössisches einbetten. Sie verkoppeln Zeiten und sortieren die Menschheitsgeschichte und die Entwicklung unserer Kultur neu. Mal imaginieren die Gedichte Störmomente, um Erzählfäden neu aufzunehmen („Pinocchios Nase ist abgefallen“ oder „Er lässt die Prinzessin in ihrem Schloss zurück“), mal dient eine fiktive Rezeptionshaltung als Anlass („Ich habe die Geschichte noch einmal gelesen.“).
Kulturgeschichte wird dadurch mühelos in ein Spannungsfeld von Kontingenz und Konsequenz, von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit eingefügt. Die Gedichte des Bandes changieren zwischen einer eigenen, qua intertextueller und variierender Momente bewusstseinsschärfenden Tonlage und einem der gegenwärtigen Realität abgerungenem Panoptikum von Einflüssen, Stimmen und Bezugspunkten.
Die Logik der Narrative
Der Modus, in dem das lyrische Subjekt sich dieser Art der Darstellung widmet, ist wertfrei und visionär: Eine „Was wäre, wenn“-Logik mit einer hohen Frequenz von Konjunktiven in einigen Gedichten prägt die oft mehr erzählende Haltung und führt die Gedanken an. Der Anspruch, historische und zeitgenössische Ebenen miteinander zu verweben, ist interessant und generiert absurde und überraschende Bilder. Weniger überraschend geraten Gedichte wie „Barbie träumt“, dessen gedanklicher Spielraum sich zwischen Schlagworten wie „Ken“ und „Konsum“ nur wenig weit entfaltet und das den Plot des Kinofilms nachzuerzählen scheint. Ähnlich wirkt es in „Unvollendete Märchen“, das Handlungsmöglichkeiten des Prinzen im vermeintlich stereotypen Einheitsschema des Märchens durchspielt. Beide Gedichte greifen auf gefestigte Narrative zurück und rollen sie neu auf. Dennoch bleibt es bisweilen schwer, wirklich mehr in den „neu“ erzählten Alternativen oder auch in der Praktik des Neu-Erzählens zu sehen.
Die Unruhe des Buches
Pessoas Buch der Unruhe, das (ohne ein Lyrikband zu sein) wohl die Namensgebung des Bandes inspiriert hat, lautet im Original Livro do Desassossego. Das letztere, mit „Unruhe“ übersetzte Wort impliziert bei Pessoa aber mehr als nur Unruhe: Es ist Überdruss, innere Spannung, Unzufriedenheit, bei Pessoa mit einem Schicksal, mit den Menschen, dem Zustand der Welt, einer Umwelt. Scheuermanns Zweites Buch der Unruhe erregt solche Beunruhigung kaum – auch nicht dort, wo Roboter das Ende der denkenden Menschheit reflektieren. Trotz aller (Ein-)Dringlichkeit von Bedenken gegenüber menschlicher Naturfeindlichkeit oder Künstlicher Intelligenz verfangen sich manche der kurzen Narrationen im Unterton eines fast zur Platitüde verkommenden Antizipierens des Novozäns. Unruhe entsteht mehr über die ungeheure Vielfalt, die angezapft wird – thematisch, motivisch, intertextuell. Die unzähligen Referenzen an literarische Texte, Figuren und Künstlerpersönlichkeiten erscheinen wiederum unglücklich. Ob Rilkes „Panther“ wirklich zitiert werden muss, wenn es um Tiere in Freiheit und in Gefangenschaft geht? Rilke beschreibt gerade nicht (nur) ein Tier in Gefangenschaft.
Vom Panther zum Löwen
Zu den interessantesten Gedichten des Bandes gehören die, die das poetisch und intellektuell etwas reizarme kulturwissenschaftliche Begriffs-Dropping zugunsten eines stillen, reduzierten und poetisch gesetzten Vokabulars auflösen. „Die Herrin der Löwen“ ist zweifellos ein solches. Gewidmet ist es Claire Heliot, einer deutschen Löwen-Bändigerin und Dompteurin im 19. Jahrhundert, die in Abgrenzung zu gewaltsamen Dressurmethoden die empathische Zähmung kultivierte und deren Darbietungen auch das repräsentieren, was als Tenor des ganzen Gedichtbandes gelten kann: der (innere wie äußere) Kontakt zwischen Natur und Kultur.
Claire Heliots Farblithographie von Adolph Friedländer aus dem Jahr 1903 ist es auch, die das Cover des Bandes ziert. Wer hier wen beherrscht – der an ihrer Stuhllehne aufgerichtete Löwe die darunter auf dem Stuhl sitzende Heliot oder andersherum – das bleibt in diesem Bild offen. Trotz der körperlichen Überlegenheit des Löwen liegt Heliots Hand sanft, aber bestimmt auf der Tatze des Löwen und macht aus der Frage um Über- und Unterordnung (zwischen Tier und Frau, aber auch zwischen Natur und Kultur) mehr eine der Kooperation. Diese Perspektive wird für den ganzen Band spannend, weil sie keine Oppositionen annimmt und auflöst. Scheuermanns Gedichte zeigen, wie sehr wir durch unsere Kulturgeschichte, Kulturwahrnehmung und Kulturbeherrschung geprägt, normiert und diszipliniert sind, und wie sehr Natur und Kultur – naturgemäß? – verwoben sind. Anders – oder doch ganz im Sinne dieser Idee? – erscheint Claire Heliot, die den Kopf ins Maul des Löwen legt und in diesem Moment die Angst, die eigene Natur, bezwingt: „Da wir gerade von Angst sprechen, / Ich habe keine.“ Das Heliot gewidmete Gedicht besitzt ein großartiges Sujet, ist sanft und eindringlich, spiegelt auch strukturell den Kontakt zwischen innerer und äußerer Stärke und Unterwerfung. Doch auch hier bleibt das leise Gefühl zurück, dass poetisches Potential am Textrand liegen gelassen wurde, dass es vielleicht um mehr geht, in diesem Bild, als nur um eine Frau und ihre Löwen und dass Fragen von Angstfreiheit und Lebensgefahr, von Beherrschung und Beherrschbarkeit nicht so weit gedacht wurden, wie dies möglich gewesen wäre.
„Das hast du nicht erwartet“
Es gibt auch Naturgedichte – etwa „Definieren wir Natur doch einmal anders“, das in tourismuskritischer Tendenz die menschliche, durchaus seltsame Sehnsucht nach der unberührten Natur ironisiert, oder „Der Hund“, aus der Perspektive eines domestizierten Hundes geschrieben, dessen spezifische Kognition und Intuition erahnt werden und eine Stimme erhalten. Und dann gibt es im Grunde auch Liebesgedichte. Sie reflektieren das lyrische Subjekt in Beziehungserfahrung, aber vor allem auch in Beziehung zu – und Liebe und Achtsamkeit für – sich selbst. Achtsamkeit ist überhaupt ein Modus, den Scheuermann vor allem in diesen Gedichten, die Langsamkeit und Introspektion ausstrahlen, sehr gekonnt herzustellen weiß. Sie entfalten eine ähnliche Wirkung wie das Gedicht für Claire Heliot, stellen Fragen, erinnern sich an etwas, sprechen sich selbst an, folgen keiner klaren kulturellen oder argumentativen Logik. In einzelnen Passagen verliert sich auch der Duktus der narrativkritischen oder kulturreflexiven Sequenzen, wobei das lyrische Subjekt sich gerade in diesen Passagen zu finden scheint. Die „Illusion klarer Verhältnisse“ wird hier gedreht und gewendet, angestrahlt. Überhaupt ist das Licht immer wieder – in durchaus erkenntnistheoretischer Manier – wichtig in diesen Gedichten, das Licht, das Wissen, das Innere. Und nicht selten wird auch das Gegenteil inszeniert – das Dunkle, das Vergessene, das Verlorene. In dem Gedicht „Die Lampe“ trifft beides aufeinander. Dieser Text fängt einen Moment im längst verlassenen Kinderzimmer ein, erzählt von Erinnerung und Transformation, von Wissen und Nicht-Wissen, von einem lyrischen Subjekt, das all dies mehr zu fühlen scheint und das im Prozess der Raumerfahrung, die zur Selbsterfahrung wird, nur – oder immerhin – Spuren findet und Strukturen: „Ich/ musste schon wieder hinaus aus dem Raum,/ dich zu suchen. Ich gehe. Immer wieder.“
À propos Eva
„Manchmal frage ich mich, ob Eva/ gerne gewusst hätte, was wir/ aus ihren Äpfeln machen“, fragt Silke Scheuermann im ersten Gedicht des Bandes. Auch das erste Gedicht eines anderen noch jungen Lyrikbandes greift die biblische Figur der Eva auf, nämlich Daniela Seels Jenseits von Eden (2024). Während Scheuermann Eva und den Apfel mit Fragen um Unschuld und eine andere, neue (auch kulturelle) Realität in Bezug setzt, setzt Seel sich mit einer Eva auseinander, die gleichermaßen den Ausgang des Menschen in die Zeit, in Sterblichkeit, und den Ausgang einer Frau in die eigene Emanzipation markiert. In dem sich also regelrecht aufdrängenden Vergleich zu Seels Band, der sich ebenfalls Naturräumen, Schmerzräumen, internen und externen Echokammern widmet, kommt Scheuermanns Band als eher simpel gearbeitet und gedacht daher. Ihre Gedichte charakterisiert das Aufscheinen klarer, aber statischer Ideen, und ihre Bilder gehen oft nicht in mehr auf als in sich selbst. Während an Seels Gedichten präziseste poetische Triebwerke mitschreiben, wirken Scheuermanns sprachliche Entscheidungen und Setzungen immer wieder allzu lässig, leichtfertig. Beiden Varianten dieses kulturreflexiven, weiblichen und anthropozänen Schreibens ist jedoch gemein, dass sie mehr (neue) Konfusion auslösen, als (alte) Ambivalenzen lösen – und das ist ein kultureller Gewinn, in beiden Fällen.

