Meerlandschaft mit toter Ziege

Zu Kiki Beach von Verena Stauffer

Der neue Gedichtband von Verena Stauffer heisst Kiki Beach. Liebesgedichte – zumindest laut Umschlag, denn schon die Titelseite im Buchinneren weicht davon ab und weist den Inhalt als „Kiki Beach: Kinky Bitch. Liebesgedichte“ aus. Entsprechend doppelt, flirty, Text-vs.-Subtext, können wir das ganze Buch lesen. Das geht bis in die narrativen Elemente, die einerseits eine Geschichte von Verlassenwordensein, Erinnerung, Selbstverortung zu erzählen scheinen (und einer distinkten Protagonistin vor dem Hintergrund eines distinkten Orts in Zypern zuordenbar sind), andererseits alterieren zwei deutlich verschiedene Schriftbilder, was divergente Sprecher(innen)positionen nahelegt oder zumindest ein dialogisches Konzept, in dem sehr viel mehr verhandelt wird.

Aber der Reihe nach. Die etwa siebenundzwanzig Gedichte (Intro und „Ende“ fungieren dem Inhaltsverzeichnis nach als den Gedichten gleichgestellt) sind in meist fünf-, seltener vierzeilige Strophen gegliedert, deren dialogische Funktion sich nur allmählich erschließt. Erste Vermutung: es ändert sich unter der Hand: Rede vs. Gegenrede, Reflexion vs. sinnliches Wahrnehmungssubstrat, Echo. Auch wiederholen sich manche Elemente an korrespondierenden Stellen mehrerer Gedichte – die Familienähnlichkeit des Wiederholten erzeugt den Anschein streng eingehaltener Bauprinzipien. Das Ganze hat acht Kapitel (mit dem „Ende“, das Danksagungen, aber keine eigentlichen Gedichte einschließt).

Drei wiederkehrende Elemente gibt es: erstens die leitmotivische Wendung „Der Trick ist …“, mit der Stauffer unterschiedlichen Aussagen und Sachverhalten, auch ‚unpassenden‘, einen leichtfüßigen Plauderton verleiht; zweitens der Bild- und Bildungsapparat zur Mythe von Venus als Schaumgeborener samt der Vorgeschichte mit himmlischem Vatermord; drittens, dazu passend (wegen Aphrodite Ourania, Patronin u. a. der Burschen- und Männerliebe), die Figur des Teleny aus dem Roman von Oscar Wilde. Diese drei Elemente entfalten unterhalb der Schwelle des manifesten Narrativs ihre Wirkungen, stiften Assoziationsfluchten, Obertöne, bringen das eigentlich Gesagte zum Schwingen.

Welches eigentlich Gesagte nun? – Wenn wir den Band linear lesen wollen, so setzt der Text mit Stauffers Protagonistin (im Folgenden einfachheitshalber „sie“) in einem „Orangental“ nahe Paphos in Zypern ein, einem Ort, dessen Natur uns in der ersten Strophe geschildert wird:

 

           Wenn keiner weiß, wo das Orangental liegt,

           Dann ist der Trick, dem Instinkt zu folgen,

           sich nicht abbringen zu lassen von der Ahnung

           weiterzugehen und nicht daran zu denken

           was passiert, wenn es der falsche Weg war.

 

– also ein ca. Gralsburg-Gärtlein (also: unerreichbar für zielgerichtet-vernünftiges Suchen). Hier wächst und blüht allerhand, hier arbeitet sie (das lyrische Ich) das Ende einer Beziehung auf, erlaubt sich auch selbst wieder, metaphorisch zu „wachsen“ – aber ganz ohne Selbstverletzung auf ihrer Seite wird die Trennung nicht gegangen sein, sonst trüge solch geheimes Blütental nicht auch (sublimiert) Züge von Dantes Selbstmörderwald:

 

           Der Trick ist, solange zu gehen, bis das Orangental da ist

           Um dann selbst ein Orangenbaum zu werden, zu wachsen

 

Der poetische Weg von diesem Ausgangs- zum zentralen Umschlagpunkt des Buchs lässt sich entweder mitvollziehen als Erzählung einer Anzahl von Abenteuern, die „sie“ dort im Tal, im nahen Paphos und am Strand erlebt – oder, plausibler, als eine Serie von Erinnerungen, z.B. an „ihn“, der „nicht [ge]kommen [ist], um mit ihr zu leben“, denen im zyprischen Jetzt eine Anzahl von sinnlichen Eindrücken entsprechen – oder beides zugleich, in Superposition. Diese zusammengruppierten, doppelt lesbaren Erinnerungen und Eindrücke behandeln erotisch/mythologisch aufgelandene Stories mit viel floralem Ornament, ohne irgendwo kitschig zu werden – sie sind verspielt, aber mit Ernst bei der Sache –, und machen sozusagen die Substanz von Kiki Beach als Gedichtband aus. Inventar und Sound des biblischen Hoheliedes mit seinen als Körper gedachten Landschaften ruft Stauffer hier ebenso auf wie, ganz gegenwärtig, die Entlandschaftlichung der Körper dank Cyberspace (Facebooks ‚Metaverse‘ wird bei Stauffer, klug, zum „Metavers“, also zur Über-Schrift-Zeile). Kein Zufall ist auch, dass viele der Einzelheiten auf das Voranschreiten von Historie als auf einen Zwangszusammenhang weisen, dem Stauffers Figuren unterworfen sind, an dem sie sich so sehr abarbeiten wie an einander.

Der erwähnte Umschlagpunkt ist das einzige Prosakapitel, betitelt „GOAT. Über das Metrum und was die tote Ziege bisher gesagt hat“. Hier findet die auf Zypern bzw. im Orangental umherschweifende Sprecherin etwas, das sie aus dem Reigen an Erinnerungen, Reflexionen, unverbundenen Sinneseindrücken firm in ein Hier und Jetzt zwingt: eine tote Ziege. Sie hat sich im Karst ein Bein gebrochen und ist da liegengeblieben. Wir erinnern uns angesichts dessen an den oben zitierten Beginn des Bandes, also, bloß „nicht daran zu denken, was passiert, / wenn …“, und es erschließt sich uns, dass das ganze Dialogische in Kiki Beach bis hierher als Zwiesprache mit diesem Kadaver da zu lesen sei, das Bisherige von hier, vom Tod der Kreatur her zu denken. Das erzeugt momentanen Schwindel beim Lesen. „Sie“ legt sich dann zur Ziege dazu – wovon es im Buch ein S/W-Foto gibt, und im Netz, auf der Webseite der Fotografin Angela Andorrer, einen limitierten Kunstdruck zu bestellen. Im Poem gerät das explizit zu einer chymischen Hochzeit zwischen Bewusstsein und hinfälliger Materie, Historie und Natur, poetischer Form und poetischem Bewusstsein. (Der nicht ebenso explizit gemachte „Trick“, um Stauffers Redefigur zu entwenden, ist dabei die Präsenz der Fotografin im Text als gemeinsamen Gegenübers von GOAT und „ihr“: nur, was gesehen wird, geschieht und erlangt Bedeutung.)

In den sechs (oder sieben) Gedichten, die auf diese Volte noch folgen, gibt es die eingangs erwähnte Zweistimmigkeit nicht mehr. Nur noch die eine Sprecherin bleibt übrig. Ihr*e Adressat*in, Du-Subjekt, ist nun zuerst GOAT selbst, und dann, im einzigen ‚Spaßgedicht‘ des Bandes, das wir als Selbstsatire Stauffers auf die erotisch aufgelandene Grundstimmung von Kiki Beach lesen dürfen, ist es ein „Dr. Dr.“ –

 

           Dr. Dr., you are handsome

           Dr. Dr., you are young

           Dr. Dr., you're my Darling

           Dr. Dr. please do come

 

           […]

 

           Dr., give me all your babies

           Dr., give me also Geld

           Dr., give me all your babies

           I give you die ganze Welt.

 

–, und ist nach dieser Lockerungsübung endlich, endlich: das eigene Selbst der Verirrten, Verlassenen und (hiermit nun) Wiedergefundenen direkt: Ich- und Du-Subjekt, ununterscheidbar.

Es ist in den dann folgenden letzten zwei Gedichten, dass die tote Ziege als das Kleine, Unveränderliche, Unmenschliche der großen menschlichen Geopolitik, Ursache von Leid und Verwirrung, gegenübersteht bzw. -liegt. Diese Setzung an sich, also: der ihr zu Grunde liegende Gedanke als Endpunkt unserer Lesebewegung durch Stauffers Kiki Beach, funktioniert hervorragend. In ihrer Substanz wäre die Aufzählung von Krisenherden im letzten Gedicht des Bandes auf das Bild einer undefinierteren, numinosen Rauchsäule im Horizont reduzibel, auf den die Ziege und die Protagonistin zum Schluss hinausschauen. Diskutieren ließe sich, ob es nicht ggf. besser funktionieren würde, an die Stelle der Aufzählung entweder tatsächlich nichts als so ein simpel mythomanes Bild zu setzen, oder, nach der anderen Richtung hin, stattdessen die Kriege, Krisen und Historien in Bezug auf das alchemische Paar – „sie“ mit „GOAT“ – erst über noch einmal so viele Poeme hin zu entwickeln, wie das Buch jetzt schon zählt, ehe man sie, die Krisenherde, mit Namen nennt. Womit die Kritik darauf hinausläuft, dass das Buch gern länger sein darf.

Die Setzung selbst ist, wie gesagt, das korrekte Ende für den Band. Die Gegenüberstellung zwischen den in den Schrecken der Historie verhafteten und genau deshalb verwirrten menschlichen Subjekten und den in sich ruhenden, ggf. toten Objekten der Natur, kündigt sich vom ersten Text weg an. Sie machen einander ja nicht umsonst zu (Lust-) Objekten, die Figuren in den Episoden dieser Liebesgedichte.

 

 

Verena Stauffer: Kiki Beach. Liebesgedichte. kookbooks, Berlin 2025. 72 S., geb., € 24,- (D) / € 24,70 (A).

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