Ana Tcheishvili – Der Tote ist nicht von uns
Ich bin in eine heiße Stadt gezogen,
ich küsse immer fremde Türklinken.
In der edition zwanzig, einer Reihe von Chapbooks des Verlagshauses Berlin, die neue poetische Stimmen präsentiert, erschien 2024 Der Tote ist nicht von uns von Ana Tcheishvili. Darin schreibt die in Georgien aufgewachsene Dichterin von Umzügen – zwischen Wohnungen, Häusern, Ländern, aber auch vom Wechselspiel der inneren Zustände. Die Gedichte operieren mit verschiedenen Graden von Nähe und Distanz. Sie erfassen Details, wie den Fleck auf einem fremden Kleid, das angezogen wird, kurz darauf nehmen sie die Vogelperspektive ein oder raffen Jahre in eine Zeile zusammen. Oft sammeln sich die Verse vignettenartig um einen bestimmten Moment, beispielsweise eine Kindheitserinnerung.
Unter dem Nest finden wir drei nackte Küken,
ihre Haut ist zart und warm wie meine Blasen,
aber sie sind tot, nichts schmerzt sie.
Die Gewaltsamkeit, die dem Heranwachsen innewohnt, ist den Gedichten ebenso eingeschrieben wie die Beiläufigkeit des Todes. So mischt sich die Angst vor Sterbenden in eine alltägliche Szene mit Fliegen und einem Marmeladenglas. An einzelnen Stellen schneidet der Tod aber in den Alltag ein: Regeln verschieben sich – stirbt im Haus jemand, wird die Fahrstuhlnutzung kostenlos. Die Verschiebung wird zum poetischen Prinzip der Gedichte, wenn Tcheishvili ein Bild aufruft und es dann variiert, etwa wenn der Rat, Kakteen nicht zu oft zu gießen, auf das Stillen eines Kindes übertragen wird. Inhaltlich kehrt die Normalität allzu schnell wieder ein, denn nach drei Tagen muss für den Fahrstuhl wieder bezahlt werden.
„der Fahrstuhlboden ist voller Blüten,
habt ihr einen Toten im Haus?“
Viele Texte verorten sich in einem Hochhaus, bewegen sich durch Ebenen oder verharren auf einer Etage. Die Koexistenz mehrerer Leben in einem Haus entspricht der Gleichzeitigkeit, die den Gedichten häufig zugrunde liegt. Tcheishivili versteht es, in drei kurzen Strophen einen Tod zu erzählen, in wenigen Zeilen einen ganzen Winter.
Das war der Winter, in dem ich endgültig schrumpfte,
es machte mir nichts aus.
Ich wusch die Wolle heiß,
sie zog sich zusammen
und alles passte.
Tcheishvili verwendet eine klare, oft direkte Sprache, deren Poetik darin liegt, dass sie haarfein zu treffen scheint. Die gezielt eingestreuten Metaphern bleiben in ihrer Ungewöhnlichkeit immer spürbar. Auf diese Weise wechseln sich scharfe, realistisch wirkende Bilder ab mit verträumten, verworrenen. Die im ersten dreiteiligen Gedicht Sommerferien heraufbeschworene Hitze lässt die Bilder flimmern, wenn eine rosa Wolke das Haus hochzieht; doch dann wird aus diesem Traumbild einer Wolke der Streifen auf einem Schwangerschaftstest.
Ein Tod riecht nach Blumen und Apotheke,
ich kaufe mir einen Schwangerschaftstest und Nelken
auf dem Weg nach Hause.
Eine rosa Wolke gleitet hoch,
während ich die Nelken in ein nasses Tuch einwickle.
Sie wird dichter, um sich in Striche zu verwandeln.
Wie Flugzeugspuren, die verschwinden,
macht sie mir Angst.
Es liegt eine Sicherheit darin, wie eigene Handlungen beschrieben werden, nicht selten aneinandergereiht in Parataxen. Auch wenn äußere Umstände einwirken, klingt die Reaktion entschlossen:
Der Zug hat Verspätung,
ich lasse mich in diesem Land nieder.
Wir kehren zurück zum Umzug, der zum Einzug wird – auch das Bleiben ist bei Tcheishvili eine aktive Handlung. Und bleiben, verweilen möchte man in diesen Gedichten und ihrer schönen und schmerzlichen Logik.
Ana Tcheishvili: Der Tote ist nicht von uns. Verlagshaus Berlin, Berlin 2024. 48 S. 9,90 €.