Karin Fellner – Polle und Fu

Karin Fellner – Polle und Fu

Karin Fellners im letzten Jahr in der parasitenpresse erschienener Gedichband Polle und Fu beginnt mit einer Erläuterung aus dem Grimm‘schen Wörterbuch: „WECHSELN, verb. eins an die stelle des andern treten lassen, tauschen, ändern, sich verändern, im wechsel stehen usw.“ Damit ist Leitmotiv des Bandes benannt. In ihrem sechsten Gedichtband zeigt sich Karin Fellner als Meisterin des Wechselspiels. Buchstaben verwandeln sich anagrammatisch, Sprachen werden miteinander ins Gespräch gebracht.

„Wo zwei sind ist Drittes“, heißt es in „Buch der Einfalt“. Ein Satz, der sich in nahezu jedem Gedicht einzulösen scheint. Indem sie der Sprache selbst die Führung überlässt, gelingen ihr anspielungsreiche Verse und Gedichte voller Sprachwitz, in denen scheinbar Gegensätzliches kurzgeschlossen und Routinen in Unordnung gebracht werden, während die Verse sich scheinbar allein an Rhythmus und Lautsprachlichkeit orientieren. Dem Warten wird das „gegenwarten“ zur Seite gestellt, und „Jedes Gedicht hat eigene Begriffsstutzigkeiten“.

Die Einheiten in diesem Band, zumeist von einer Tuschezeichnung von Simone Cayé eingeleitet, haben keine Überschriften, sondern enthalten kurze Zusammenfassungen oder einen einleitenden Satz, aus dem sich das folgende entwickelt.

Fellners Verse betrachten die Welt aus einem hintersinnigen Winkel des Humors. Ihr Witz, der oft nah am Kalauer operiert, verfügt dennoch über eine verblüffende Tiefe. Zum Beispiel wenn sie fast biblische Sprache auf Gegenwart treffen lässt. Im Gedicht „Übergang“ heißt es:

 

[…] Skelette grüßten uns, so

eines farbigen Fleischs wurden wir.

Habt ihr euch da nicht befürchtet?

Nö, die Influencer meinten, es hülfe,

wenn wir in Rudeln stürben.

 

Mit Fragen und Fibeln, Morsezeichen und Sprachverwirrungen, Verlaufsformen und einem abschließenden Dialog beschenkt uns Fellner so reich mit Wortwitz und Tiefsinn, dass es unmöglich scheint, das in einer Besprechung auch nur annähernd auszuschöpfen. Zu zahlreich sind die Zwischenräume, die ihre Verse öffnen und in denen sich die Leserschaft einrichten und immer neue Ausblicke genießen kann.

Dabei beteuern sowohl die Zeichnungen als auch die Verse: „du musst das nicht verstehen“. Gerade deshalb steht am Ende der Lektüre die Erfahrung, wie Sprache Gegenwart verwandeln kann. Während die politischen Entwicklungen immer mehr Freiheiten einschränken, setzt Fellner diesem Prozess die Freiheit des Denkens entgegen. Das ist ebenso erhellend wie ermutigend. Und ein großer Genuss obendrein.

 

Karin Fellner: Polle und Fu. Parasitenpresse, Köln, Leipzig, 2024. 70 Seiten, 12, – €.

Ana Tcheishvili – Der Tote ist nicht von uns

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Die Rückseiten des Gedichts

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