Die Rückseiten des Gedichts
Zu NACHWASSER von Frieda Paris
ich liege in großen Fragen
aber werde ich denn noch lieben? (Elke Erb)
werde ich heute schreiben können? (Friederike Mayröcker)
lege meine Frage dazu
was darf ein Gedicht?
In diesen wenigen Versen formuliert Frieda Paris das Programm aus, das ihren – völlig zurecht mit dem Debütpreis des Österreichischen Buchpreis 2024 ausgezeichneten – Lyrikband NACHWASSER bestimmt: Der Band tritt in Resonanz mit bedeutenden literarischen Stimmen des letzten Jahrhunderts und findet auf seine Leitfrage „was darf ein Gedicht, darf es alles?“ bald die Antwort: „JA, es darf alles“. Frieda Paris’ Lyrik zeigt, dass ein Gedicht nicht nur alles darf, sondern auch alles (zugleich) sein kann. NACHWASSER ist nämlich nicht nur ein knapp 140 Seiten umfassendes „LANGGEDICHT“, sondern auch eine Hommage an Friederike Mayröcker, die Inszenierung eines Konzipierungs- und Schreibprozesses sowie sein eigener Apparat und Lektüreschlüssel.
Vom Schreiben schreiben
In NACHWASSER „schreibt eine Schreibende!“, die ihr Schreiben herausstellt und zum Thema macht:
ein Ausrufezeichen an all jene, die mich gefragt haben,
ob ich denn je etwas anderes schreiben würde,
als über das Schreiben
nein! ich schließe das Schreiben nie aus, beziehe es ein,
stehe in Beziehung zu meinem Schreiben, ihm gegenüber
wie mich umgebenden Personen
Der Band buchstabiert einen Schreibprozess mit all seinen Vorüberlegungen, Korrekturen und Unsicherheiten aus. Wir lesen etwa von den Schritten zur Titelfindung oder vom Nachdenken der Schreibenden über die Form, die ihr Text annehmen soll:
am liebsten wäre mir: nichts,
entgegen einer Eingattung (Eingitterung),
andererseits mich hinstellen und sagen
LANGGEDICHT
Und es bleibt beim Selbstverständnis des Textes als Langgedicht, trotz allen Haderns mit starren Gattungskonzepten, in die sich kaum ein Text (auch dieser nicht) ohne Weiteres einbetten lässt. So entsteht ein Gedicht, das laufend seine eigene Entstehung reflektiert – ein „Making-of a Poem“. Durch Einschübe wie „(diese Notiz war ursprünglich eine für Einreichungen / undsoweiter, viel später beschloss ich, sie stehen zu lassen)“ zeigt er sich in allen seinen Zwischenstadien. An ihrem „SCHNEIDETISCH“ seziert die Schreibende ihre Materialen und ihre Gedanken – eben alles, was ihr „ZWEIFELL (ist gleich [ihr] Schreiborgan)“ hergibt – und ordnet es an und um. Ihr Verfahren, die „Montage“, reflektiert sie nicht nur selbst, sondern führt sie den Lesenden auch vor Augen: Die verschiedenen Quellen ihres Schreibens verschmelzen nicht zu einem homogenen Textkörper, sondern bleiben als distinkte Bestandteile sichtbar. Da sind etwa altbekannte und fremdgewordene Wörter, die im Sperrsatz stehen, oder eingerückte Einwürfe der fingierten „Lomeise“, die sich auf der „Schreibschulter“ eingenistet und die Rolle eines unbedarft und hartnäckig fragenden Alter Egos übernommen hat.
Keine Geheimnisse: Dichten im Modus der expliziten Intertextualität
Frieda Paris betreibt mit ihrem Langgedicht ein Schreiben, das versucht, sein eigenes Entstehen transparent zu machen: Kaum eine schriftstellerische Entscheidung, kaum ein Vers bleibt unkommentiert oder ohne Erläuterung (die teilweise erst viele Seiten später folgt) stehen. Die Kommentarebene wird dabei selbst Gedicht und verschmilzt so mit dem Kommentierten. Dieses Verfahren bestimmt auch den Umgang mit Quellen:
ich frage mich, wie ich hier Quellen sichtbar machen werde,
die Quellen sollen sprudeln im Text
[…]
die Quellen sollen sich stellen im Text,
als Stelle im Text, nicht erst an seinem Ende
Die Schreibende bedient sich aus dem Fundus von bereits Geschriebenem, legt ihre literarischen Vorbilder offen und erweitert ihre Montagelyrik so um eine für den Band richtungsweisende Facette:
ich glaube an Bezugnahme und Montage, damit nie nur eine
große Erzählung entsteht, sondern ihre Auffaltung
ein Text ist
ein Text
ist ein Text
Am Ende des Bandes geht der Text beinahe unmerklich über in seinen Paratext, etwa in Quellenverzeichnis und Danksagung. So zeigt sich auch auf formaler Ebene, wie wenig sich das Gedicht und seine Entstehungsbedingungen separat betrachten lassen, wie sehr beides hier folglich zusammen gedacht wird. Als die Schreibende „ein Dankesagen / bereits im Text“ unterbringt, stellt sie fest: „das ist weibliches / Schreiben“. Was Frieda Paris praktiziert, ist ein wertschätzender und bewundernder Umgang mit der literarischen Tradition. Ihr geht es nicht darum, die Quellen ihrer Inspiration zu verdecken, um an einem (männlich geprägten) Geniekult zu partizipieren. Stattdessen gilt es, im in den eingangs zitierten Verse anklingenden Modus des Dazulegens an bereits Gedachtes und Geschriebenes anzuschließen. Der „Wortmütter“, deren Zeilen und Worte in den Text einfließen, sind viele: Es fallen unter anderem die Namen Ingeborg Bachmann, Elke Erb, Hilde Domin oder Paul Celan („Väter eher selten“). Über allem steht jedoch das Werk der „Großen Wortmutter“ – Friederike Mayröcker.
Eine Gedicht gewordene Zettelwerkstatt
Als zentrales literarisches Vorbild ist Friederike Mayröcker in NACHWASSER omnipräsent. Die von der Schreibenden bewunderte und „schmerzlich vermisste Dichterin“ nimmt nicht nur auf inhaltlicher Ebene eine zentrale Stellung ein, sondern ihr Werk und die Auseinandersetzung damit bestimmen Ziel und Verfahren von Paris’ Text: Besonders bedeutend für den Schreibprozess (und eines der Hauptthemen) ist die Arbeit der Schreibenden mit Friederikes Mayröckers umfangreichem Nachlass. Dieser wird ihr zum titelgebenden „NACHWASSER“, an das sie fährt, in das sie eintaucht, das sie bisweilen unkontrolliert mitreißt:
[…] nach dem NACHWASSER
bin ich durchsichtig wie nach einem Freibadbesuch,
müde, hungrig, vielleicht etwas vom Tag im Haar
Dass die Archivarbeit so langwierig und mühsam, aber auch so ertragreich ist, liegt daran, dass Mayröcker „ihr Vorwerk zu Lebzeiten bereits / unablegbar (unzähmbar) gemacht hat“, indem sie „vorwiegend lose Blätter beschrieb […]“. Die Schreibende schildert ihre Auseinandersetzung mit Mayröckers „laufende[m] / (lebenslange[m]) Satz“ und ahmt ihre Technik damit simultan nach – denn auch auf den rund 140 Seiten des Bandes sucht man vergeblich nach einem Satzende. Doch die Schreibende begnügt sich nicht damit, was Friederike Mayröcker geschrieben hat – sie interessiert sich auch für das, worauf sie geschrieben hat:
ich bin am NACHWASSER
wegen der Rückseiten
abends am SCHNEIDETISCH
lege ich Funde offen (als Fotografie auf Display)
Ihre „Rückseitenhinwendung“ führt die Schreibende zu von Mayröcker beschriebenen Postkarten, Einkaufslisten, Kalenderblättern und anderem „Material ihres Alltages“. Diese arbeitet sie – ebenso wie Zitate im herkömmlichen Sinne – in ihr Langgedicht ein, grenzt beide Seiten durch die Abkürzungen R und V voneinander ab und ordnet sie durch Nummerierungen einander zu. Das sich aus diesem Verfahren ergebende Druckbild erinnert an einen textkritischen Apparat:
treffe auf eine datierte Notiz (W25/101)
in einem Umschlag mit vielen einzelnen Zetteln
R29 kleines Blockblatt, kariert
Verweis auf ehemalige Lochbindung
V29 er phantasiert seinen
Eltern 6 Brüder
am Morgen des
9.6.2000
ach (auch?) du träumst
(dunkelgrauer Kugelschreiber)
Die Rezeption von Friederike Mayröckers Schreiben wird hier um den Aspekt seiner Materialität erweitert, und die Schreibende lenkt den Blick auf „die Gegensätzlichkeit von der Rückseite / und Notiz auf der Vorderseite“. Sie liest Mayröcker,
als wären ihre Sätze, eine Auffädelung an
Vorder- und Rückseiten (wie Fahnen im Wind),
in beide Richtungen geschrieben,
als gäben sie sich durch vielerlei Ebenen die Hand
Eben diese „Auffädelung“ führt der Text performativ selbst durch, indem er Vorder- und Rückseiten direkt nebeneinanderstellt, ihre „Nachbarschaften“ sichtbar macht.
Die Rückseite des eigenen Textes
Die Rückseiten, die NACHWASSER abbildet, sind nicht nur in einem materiellen, sondern auch in einem metaphorischen Sinn zu verstehen:
: ein Satz kann eine Rückseite (R) haben,
eine ihm zugrunde liegende Geografie, etwa die einer Kindheit,
oder die Biografie eines geliebten Menschen
So rücken auch die Hintergründe und Entstehungsbedingungen des eigenen Textes ins Blickfeld der Schreibenden. Neben der Auseinandersetzung mit Friederike Mayröcker und ihrem literarischen Werk ist es vor allem „das Verlassenwerden“, das die Schreibende zur Schreibenden gemacht hat. Sie selbst gesteht ein: „diese meine Urangst, verlassen zu werden / der Grund, auf den ich Wörter säe“. Ausgelöst von einer Trennung, dem „ausgesprochene[n] Ende einer Liebe“, beginnt sie ihre Arbeit, schreibt gegen ihre Trauer und Einsamkeit an und wendet sie dadurch ins Produktive:
körperlich bin ich doch immer auch
mit Auslaufen beschäftigt
Blut, Tränen
warum also nicht auch
Text mit Blut und Tränen
und irgendwann ein Buch
Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes Stück „poets’ poetry“, das an Mayröckers Nachlass Rezeptionstechniken vorführt und einübt, um sie dann konsequenterweise auf sich selbst anzuwenden. Doch NACHWASSER ist keineswegs nur für Lesende geeignet, die auch selbst Schreibende sind. Frieda Paris’ Lyrik ist zugänglich und selbstironisch – und macht es uns so leicht, sich vom Fluss ihrer Verse mitreißen zu lassen.
Frieda Paris: NACHWASSER. Voland & Quist, Berlin/Dresden 2024. 136 S., br., 22, – €.