Verstherapie in Rüpelsheim
An der Frage, ob das Gedichtemachen bei der Wirklichkeit, bei der Beobachtung des Inneren oder Äußeren anfängt oder mit dem Wort beginnt, scheiden sich traditionell die poetischen Geister. Wirklichkeit zuerst, Sprache zuerst, Huhn oder Ei. Nicht nur das Ei ist in akuter Bruchgefahr, ganze Freundschaften sind es, weiß ich aus Erfahrung zu berichten. Auf der einen Seite eine Dichtung, die sich der Arbeit an der Wirklichkeit verschrieben hat und Inhalte transportieren will, sich womöglich für ihren Gegenstand konkret engagiert. Auf der anderen Seite eine Dichtung, die von den Möglichkeiten der Sprache ausgeht, diese reflektieren, vielleicht mit ihnen spielen will, vielleicht auf Umwegen bei der großen Wirklichkeit ankommen möchte. Dazwischen verläuft ein Streit mit historischem Rattenschwanz in Übergröße. Die Versuche, dieses grobe Tier einzufangen, sind zahllos, aber erfolglos; vielleicht ist die ganze Jagd ohnehin nur einer Begriffsverwirrung geschuldet.
Das 20. Jahrhundert ist voll von Künstlern, die beim Gegenständlichen begonnen haben und dann ins abstrakte Lager übergewechselt sind. Doch auch der umgekehrte Fall existiert. Kafkas Prosa wird tendenziell linearer und handlungsreicher, Calvinos Texte reduzieren die metafiktionalen Elemente, Gerhard Richters Kunst entwickelt geradezu eine Obsession mit dem Maximalrealistischen. Ein solcher Stilwandel kann viele Gründe haben. Er kann persönlich-politischen Ursprungs sein, etwa wenn die bisherige spielerische Schreibweise den neuen politischen Gegebenheiten plötzlich unangemessen erscheint; oder wenn umgekehrt der politische Druck und womöglich Zensur keine andere Schreibweise erlauben als den realistischen Ausdruck. Die Arbeit mit und an Erinnerung verlangt durch ihre historischen oder biografischen Momente eher die realistischere Schreibform. Auch kann einen die Langeweile an der eigenen Sprachkunst dazu treiben, sich einmal anderweitig auszuprobieren, vielleicht sogar den bisherigen ästhetischen Gegnern zu beweisen, dass man deren Handwerk besser beherrscht als sie. Oder man wechselt ins narrative Lager aus dem Wunsch, wenigstens einmal im Leben Geld zu verdienen.
Die Sonne und ich, ausgewählte Gedichte aus dem Spätwerk des polnischen Dichters, Dramatikers und Prosaisten Miron Białoszewski, fein übersetzt von Dagmara Kraus und Henk Proeme, präsentiert einen Fall, der in diese Ahnenreihe gehört. Białoszewski hat fantastische avantgardistische, am Grammatikspiel interessierte Frühtexte vorgelegt – für das deutschsprachige Publikum in herausragenden Publikationen bei Reinecke & Voss verfügbar – und später einen solchen Weg in die erfahrungsgesättigteren Reiche eingeschlagen. Eine erfreuliche Entscheidung. Denn sonst wären uns die ebenso großartigen realistischeren Texte dieses Doppeltalents entgangen.
Im mit den titelgebenden Worten „Die Sonne und ich“ überschriebenen ersten Zyklus verfolgen wir ein rollenlyrisches Ich, das aus einer Wohnung in einem der oberen Stockwerke eines Plattenbaus auf Rüpelsheim (Chamowo, Häuserblock in Warschau) im satellitensozialistischen Polen hinunterblickt. Ein melancholisch gestimmter Leuchtturmwärter, besorgt um das Heil seiner Mitmenschen, ruft den Ameisen dort unten entgegen: „Verirrt euch nicht, ihr. / Seid hier.“ Eine übergeschnappte Italienerin aus der Stadt Foligno schaltet sich ein: „‚Leuteee!! / steht auf! / schaut! Ich bin eine Sünderin!…‘“ Auf welche Weise diese italienische Stimme an das polnische Ohr gelangt, erfahren wir nicht. Aber, dass sich der Protagonist des Zyklus für internationale Solidarität entscheidet und der Platte verkündet: „‚Leute, ich bin Dichter, / ich bin Sünder!…‘“ Als Antwort auf sein Geschrei erhält er nur zurück, dass die Hausverwaltung bereits über sein Treiben informiert ist. Andernorts verdingt man sich im Getümmel der Kräuter („so viel Kraut, meine Güte / es überwuchert / ganze Grünanlagen, Straßen, / übermannshoch“) und streunert zumindest der Vorstellung nach durch Grünanlagen.
Manche Gedichte enthalten entfaltete Szenen, andere Gedichte sind Kürzest- oder Allerkürzestimpressionen, zu verstehen als Spuckewegbleiben des vereinsamten, mit Dissidenz kokettierenden Ichs. Einige Texte rufen historische Ereignisse in Erinnerung, etwa den Ausbruch des Aufstands im Warschauer Ghetto 1944 oder die Tatkraft des berühmten polnischen Königs Jan Sobieski. Eingeblendet in diese Diashow mit Plattenbau steigern sie das Bild der Trostlosigkeit. Manche kurze Texte halten auf den Kosmos zu: „Und sie, dies Glitzerding / wird leben und leben / ohne Ende. // Ach, stimmt, / es endet die Sonne.“ Oder berichten über die, die sich an der Existenz abschuften: „Und hier messen wir alles in Schnaufern / in Atemzügen.“ Allein, der Kosmos antwortet nicht; es antworten das Kraut und die Rüben von Rüpelsheim.
Spröde wie die Kräuter von Rüpelsheim ist diese Sprache, will man als wortexplosionsliebender Gourmet sofort einwenden. Doch ist sie wirklich spröde? Allein schon deshalb nicht, weil die präsentierten Anekdoten hochgradig lebendig sind. Auch ist das Ganze psychologisch abgesichert: Wird der Mensch in einer politischen oder auch inneren Welt eingeschlossen, fängt er allein aus Langeweile an, im Allzu-Alltäglichen das Kuriose aufzuspüren, beginnt, seine eigenen Panorama-Beiträge zu verfassen und sie weiterzuerzählen. (Kannst du dir vorstellen, der komische Typ von nebenan – ja genau der –, der hat doch neulich tatsächlich … Ja, genau!! Prust.) Unaufgeregte Sprache hat den Vorteil, dass einzelne aufregende Elemente – als Pointen oder Abweichungen – ein Gedicht dynamisieren, lebendig machen können, den langen Leseatem belohnen. Das Feuerwerk des Extreminstrumentierten hingegen – uwaga – muss sich der Gefahr erwehren, die feinen Melodien dem Dauerfeuer zu opfern.
In einem anderen Zyklus werden wir mit den Bemerkungen und Einsichten einer gewissen Tante Angela belohnt. Sie weiß etwa zu berichten:
Den Retro-Sweatro
-Pullunder
hat mir Danuta geschickt.
Vor Neid pinkeln die Zicken sich ein.
Ich guck aufs Thermometro:
Unter plus zehn?
Ich streif ihn über
Gehe los
– Wenn zwei das Gleiche tun
– Mir nichts, dir nichts …
Andernorts wieder Grünanlagen, diesmal mit Petunien, an die Angela den Wunsch heranträgt, sie abreißen zu dürfen. Mir nichts, dir nichts ein zweites Mal: Ihr fällt ein Zarenrubel in die Hände. „Ob ich gerührt bin? / Null. / Pfui!“ Der alte Zar ist was für alte Damen; auf so einen sentimentalen Quatsch fällt unsere Tante Angela doch nicht rein.
Die Reglosigkeit des Lebensraums veranlasst zum Beschauen, was sich da im Erinnerungsspeicher noch so tummelt, das man herbeirufen könnte. Da wäre der Annäherungsversuch einer Frau Doktor: „Sie hat meinen Marian angemacht / Vor 30 Jahren. / Nein! 40.“ Dann geht’s zurück ins Selbstgespräch, wenn Plattenbaulandschaft und Regenwetter sympathisieren: „Fenster zum Regen. / Es graut. / Ich klebe / An der Scheibe / Plaudere mit mir selbst.“ Leute kommen und wollen sich Geld leihen: „– Nein, liebe Staschka / Ich leih Ihnen keinen Hunni. / Nen Fuffi. / Den geb ich.“ Jemand fummelt mit einem Schlüssel am Türschloss von Tante Angela herum – Diebe? – nein, „Bloß ein Versehen.“ Dann versteckt sie sich vor Bekanntschaften hinter den Gardinen. Träumt von Blumenkohlsuppe. Wird angefahren und überlebt unbeschadet. Später träumt sie von einem Federbett im Himmel.
Kuriose Szenen bestimmen auch den dritten Zyklus „Verse der Alten aus der Platte“. Die rollenlyrisch auf die Bühne gerufene Alte veranstaltet, wenn sie zur Aufbesserung ihrer Rente nicht gerade Zahnarztkarten in Heimarbeit stempelt, eine Lesung auf dem Hausflur; mit Erfolg, denn „Sie planen jetzt in der Platte / eine Verstherapie.“ Die Qualität hält der Band bis zum Ende durch. Einen großartigen Abschluss bietet ein abschließender, bisweilen prosapoetischerer Zyklus, dessen Lektüre ich wie das gesamte Buch allen wärmstens ans Herz legen möchte, ohne weiter zu spoilern (gerade die Pointen der Texte machen ihren Reiz aus). Diese Rollenlyrik mit ihren absurd-humoristischen, existenziellen Ausflügen berührt, driftet nie in Zynismus ab; unter der Oberfläche brodelt ein eingezäuntes Leben. Einzelne Szenen sind mir stark im Gedächtnis geblieben; ein sehr gutes Zeichen für einen vergesslichen Leser wie mich. Große Empfehlung.