Die törichte Freiheit der Zollfreiheit – Irina Mashinskis ‚nackte Welt‘
Knapp drei Jahre nach der Erstpublikation von Irina Mashinskis Gedanken, Sprachbildern und Erinnerungsskizzen, die zum größten Teil ursprünglich auf Russisch verfasst und publiziert wurden, unter dem Titel The Naked World. A Tale with Verse in der MadHat Press (2022) ist nun Maria Meinels Übertragung des englischsprachigen Bands ins Deutsche, Die nackte Welt. Eine Chronik mit Versen, im Elif Verlag erschienen. Die Modifkation des Titels von ‚Tale‘ zu ‚Chronik‘ betont das Biografische Element der von Prosa bis Lyrik reichenden Texte, vernachlässigt jedoch die mytischen Qualitäten der von Mashinski beeindruckend erzählten, vier Generationen umfassenden Geschichte einer jüdisch-russischen Familie und ihrer Migration von der sowjetischen Ukraine, zum Ural, nach Moskau und bis nach New Jersey.
Irina Mashinski, die 1958 in Moskau geboren wurde und dort in Paläogeographie und Landschaftstheorie promovierte, emigrierte 1991 in die USA, wo sie als Gymnasiallehrerin für Mathematik und als Dozentin für Geschichte und Meteorologie an verschiedenen Universitäten unterrichtete und einen weiteren Abschluss in kreativem Schreiben erwarb. Die preisgekrönte Autorin hat zahlreiche Gedichtbände – vorwiegend auf Russisch – verfasst und ist, gemeinsam mit Robert Chandler und Boris Dralyuk, Herausgeberin des Penguin Book of Russian Poetry sowie Redakteurin der russisch-englischen Literaturzeitschrift Cardinal Points.
Die kolossale Geschichte, die Die nackte Welt erzählt, ist privat und universal zugleich, von aufklärerischer Vernunft beseelt, aber auch von der Fantasie und, wenn man so will, von einer komischen Magie. Während der Titel des englischsprachigen Originals Mashinskis Geschichte in Prosa und Lyrik als Tale bestimmt, was sowohl eine Erzählung als auch Fabel meinen kann und somit den Bedeutungsspielraum der Texte Mashinskis zwischen Geschichte und Mythos genau trifft, betont die Titelangabe Eine Chronik das Historische der im Band dargestellten Familiengeschichte. Dazu gehören der große Terror Stalins, unzählige Tote und der glühende Antisemitismus, dem die Familie, wie so viele andere, ausgesetzt war, die Opfer und wortlosen Gräuel; aber auch die Hartnäckigkeit und der Optimismus, die Leichtigkeit und der Witz, mit denen sie noch den schwierigsten Umständen begegnete. Mashinski selbst begreift ihre Poetisierung dieser Geschehnisse und Haltungen als Ehrlichwerdung des Mythos einer Familie vermittels der Migration (S. 117):
deine Leute, dein Fleisch und Blut waren (so wurde es dir zumindest vor langer Zeit erzählt) splitternackt inmitten einer splitternackten Welt, in einem leeren Feld, in dem dein Nachname plötzlich das Letzte und Beliebigste ist, was dir etwas bedeutet; du findest dich in einer Gegend wieder, in der dein kleiner Mythos abgekoppelt, abgetrennt, unscheinbar und nutzlos wird, und damit – endlich – ehrlich.
Irina Mashinski gelingt auf eine einzigartigte Weise, die sie dem Leben selbst verdankt, sogar im Duty Free-Bereich eine Utopie zu finden. Wenn der Architektenvater, stolzes Mitglied der sowjetischen Intelligentsija, wie gelähmt von der kalten Beschränktheit einer Zollverwaltung, seine Zeichnungen auf den Boden fallen sieht, auf die die Passanten achtlos treten, und wenn die kleine Tochter diese Lebensinhalte vor deren Füßen aufsammelt, ist mit einem Bild gezeichnet, wie einem Kind das Erwachsenwerden aufgebürdet wird. Und dennoch bleibt sie Kind, wenn sie später am Moskauer Flughafen, bei der Ausreise in die USA „törichterweise“ den „kommerziellen, künstlichen stark parfümierten Ort“ genießt, der für sie seither „nach Freiheit [riecht]“: „Duty Free heißt frei“ (143).
Das durch die Umstände geistig zum Erwachsenwerden gezwungene und sich dennoch die Vorstellungskraft bewahrende, talentierte Kind wird sowohl erzählerisch als auch poetisch eindrücklich geschildert, wenn wir sehen, wie sie von den Fenstern der Kellerwohnung einer Tatarenfamilie magisch angezogen wird und sich ,,das geheimnisvolle Dunkel ihrer abgetauchten Zimmer vorzustellen“ (S. 14) versucht, oder an anderer Stelle ,,die grausame Absurdität und Ungerechtigkeit eines Zuchthauses“ (S. 27) bei einer frühen Lektüre von Wildes De Profundis beweint. Mit großer Empathie bewahrt Mashinski die Chronik ihrer Vorfahren, und zu den stärksten Stellen ihres Buchs gehören die familiären Erzählungen vom Exodus, beispielsweise von der Flucht ihrer Mutter aus Kiev im Jahre 1941, vor dem Fall der Stadt an die Nationalsozialisten, als die Familie nur aufgrund einer klugen und schnellen Entscheidung der Großmutter Ophelia den Schergen entkam, oder von der Getriebenheit, mit der sie die Sowjetunion während der Perestroika verließ.
Die Sprache der Autorin ist auch in der deutschen Übersetzung weitestgehend gegenständlich und klar in der Darstellung, wie die der Akmeisten in Abgrenzung zum Symbolismus, stellenweise aber auch ausgefallen, symbolisch aufgeladen und altertümlich, dann wieder modern, gelegentlich mit popkultureller Referenz. Ihre lyrische ‚Schule‘, ihr Oszillieren zwischen seicht und schwer, zwischen metaphernhaft und rein gegenständlich, ist dadurch schon magisch, dass sie sich einer klaren Kategorisierung entzieht, wie übrigens auch die ‚Poetik‘ Ilya Kaminskis, der das Werk mit einem gleichsam lesenswerten Vorwort schmückt.
Mashinskis Schreiben und Denken ist ein Aufbruch, die Welt für sie eine Bewegung. Solange auch nur ein irgend Bekanntes verbleibt, gibt es Trost, aber keinen Halt. In der Auflösung des Mythos ist Wahrhaftigkeit, „solange der Horizont die gleiche Krümmung hat“ (123). Die Autorin beschreibt ein Zurechtfinden im Verlust. Sie macht sich sogar den Vorwurf, möglicherweise nicht so viel verloren zu haben, dass es die Flucht rechtfertigen würde. Die dargestellten Erinnerungen scheinen diese Zweifel zwar Lügen zu strafen, aber vielleicht fragt sie nach dem Recht der Dichtung auf solche Erinnerungen – darauf, Verlorenes zu bewahren. Der Übersetzung Maria Meinels für den Elif Verlag fällt die immense und eigentlich unmögliche Aufgabe zu, diese Denk- und Sprachbewegungen in die deutsche Sprache zu transferieren. Meinel gelingt es aber, die Essenzen zu erfassen. Sie bleibt dem Text treu und dabei autonom, schafft es die Leichtigkeit der englisch-sprachigen Texte in eine deutsche Fassung zu bringen. Ein Beispiel für diese Leichtigkeit ist die Alliteration des Englischen in „beat und breakwater“, die die Übersetzerin als „ganznachts gegen“ wiedergibt (94):
What did it mean –
„trust in“, say, or „don't trust in“ –
when it beat against the breakwater all night,
wird in ihrer Übersetzung zu
Was bedeutete –
„vertraue“ oder „vertraue nicht“,
wenn es ganznachts gegen die Mole schlug
Insgesamt eine wahrlich gelungene Übersetzung, die den Leserïnnen das Auf und Ab einer Ära und einer tragischen und doch hoffnungsvollen Familiengeschichte spürbar machen kann. Emblematisch für diese Bewegung ist vielleicht das Bild der mehrmals im Band genannten Seggen (Carex): Mehrheitlich an den Wassern der Erde vorkommend, spiegelt das scharfe Gras, das traditionellerweise zu Schuhen geflochten wird, die Fluchtbewegung und darin trotz allem Schmerz die Freiheit, dieses bedeutungsschwere Wort.
Irina Mashinski: Die nackte Welt – Eine Chronik in Versen. Übersetzt von Maria Meinel. Elif Verlag, Nettetal 2024. 180 S., geb., 22,– €.