Jenseits von ‚Stirb und werde’
Wie lässt sich vom Staunen über das Leben schreiben? Vom Werden und Vergehen? Vom Ganzen und dem kleinen Teil, den man selbst darstellt? Keine einfache Aufgabe, denn allzu schnell wird aus einem Staunen über die Existenz geschriebener Kitsch: wenn sich der Anspruch im Schreiben nicht mit der Form des Beschriebenen deckt; wenn die Fähigkeiten zum Ausdruck nicht hinreichen, um erzählte Geschichten zum Exemplarischen zu formen. Missverhältnisse zwischen Form und Gegenstand, Unbestimmtheiten in der Darstellung können noch die vornehmste Absicht im Schreiben scheitern lassen, bis sich zuletzt aus der Bearbeitung der großen Fragen nicht mehr als bunte Ballontiere, Nippesfiguren, Kram formen.
Einen Weg um dem Existenzkitsch im Schreiben zu entgehen, bietet die interessierte Versenkung in die Partikularität: aus der Einzelheit eines Erlebnisses, eines Gefühls, der eigenen Stimme eine Form zu entwickeln, die jenem Staunen Ausdruck verleiht und sich in den Zusammenhang der Dinge einschreibt. So findet in der Fokussierung auf das augenscheinliche Detail innerhalb des großen Ganzen in gelehrter, gedichteter oder gebrochener Weise Ausdruck, was bislang womöglich unartikuliert geblieben war. So viel zur Theorie.
Doch was bedeutet es praktisch, sich im Schreiben dem eigenen Sein, seiner Vergänglichkeit und der der Anderen zu stellen? Der im vergangenen Jahr erschienene Band La det bli/ En ensom tid des norwegischen Schriftstellers Fredrik Hagen versucht nicht weniger als jene großen Fragen der Existenz und das Staunen darüber in der kleinen Form poetischer Prosaminiaturen zu entwickeln. Die seit kurzem vorliegende Übertragung ins Deutsche von Katrin Pitz unter dem Titel Lass es sein/ Eine einsame Zeit gibt nun Anlass, über ebenjene Behandlung des Existenziellen und dessen Vergegenwärtigung in Sprache und Übersetzung nachzudenken.
Innerhalb der norwegischen Literatur ist Fredrik Hagen schon seit einigen Jahren kein Unbekannter mehr. Aufgewachsen in der Industriestadt Odda, lebt Hagen heute in Bergen und trägt neben seiner wissenschaftlichen Arbeit in der Geschichtsdidaktik zur florierenden Literaturszene der Küstenstadt bei, die zuletzt Tomas Espedal durch seine biografischen Kurzromane Wider die Kunst und Bergeners auch im Ausland bekannt machte. Fünf Gedichtbände von Hagen sind bis dato erschienen sowie mehrere Fachbeiträge zur Vermittlung des Holocausts im Schulunterricht.
Der vorliegende Band markiert nun das erste ins Deutsche übersetzte Werk und setzt Hagens Stil konsequent fort: Die nie ganz eine Seite füllenden Notizen seiner früheren Bände charakterisieren auch Lass es sein/ Eine einsame Zeit. Als Formen nehmen sie einen Zwischenraum zwischen tagebuchartigen Gefühlserkundungen, Autofiktion und niedrigschwelligen Reflexionen über die Sprache ein. Gedichte könnte man die kurzen Texte aufgrund ihrer formalen Abgegrenztheit untereinander und dem Gestus einer zurückgenommenen Innerlichkeit nennen. Doch der narrative Charakter der Prosaminiaturen und die eingesprengten essayistischen Bruchstücke legen diese Zuschreibung nicht nahe. Im ideellen Zentrum des Bandes stehen die Lebens- und Leidensgeschichten der Großmutter und insbesondere der Mutter Hagens. Seine Reflexionen über das Sein und das Vergehen kreisen um deren konkrete Leben und ihr Sterben und darüber, dass in ihnen immer auch schon sein eigenes Leben angelegt war. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Band: Abgegrenztheit der sprachlichen Reflexion und übergreifende Erzählung der Vorgänge des Lebens, der Krankheit und des Sterbens.
Begleitet wird Katrin Pitz’ Übersetzung der 73 Miniaturen von einer Serie von Fotografien von Amal Al-Doghachi und Michael Wagener unter dem Titel hierro, der auf das Element Eisen wie auf die westlichste kanarische Insel verweist. Sie zeigen Vulkanlandschaften, eisenhaltige geologische Formationen in Grau- und Rottönen, erstarrte Lavaströme – ohne Menschen, ohne Zeitmarker. Mit der Einfügung der Serie wendet sich der Verlag ein Stück weit gegen die Originalausgabe, die ohne Bilder auskommt. Doch gerade durch die überzeitlich scheinenden Nah- und Fernaufnahmen des Gesteins wird ein poetischer Aspekt in den Miniaturen stärker hervorgehoben. Durch die Fotografien ohne figürliche Gegenstände zwischen den Texten werden die einzelnen Miniaturen stärker voneinander abgegrenzt. Aus der Relation der Bilder zum Text entsteht eine heterogene Lektüresituation, man liest einen Text, betrachtet eine Fotografie, bedenkt eine Leerstelle oder einen möglichen Zusammenhang, wendet sich einem neuen Text zu. Hagens poetische Miniaturen beginnen mit nichts weniger als dem Ende von allem, das visuell eingerahmt wird von den geschichtslosen Formationen der geologischen Zeit. Wir werden als Lesende Zeugïnnen einer hektischen Apokalypse:
Die Auflösung der Welt wird in der umgekehrten Reihenfolge der Schöpfung geschehen. Zuerst wird die Ruhe verschwinden. Alle schlafenden Säugetiere, die kleinen Spitzmäuse, die schweren Braunbären, werden aufwachen und nie wieder Ruhe finden. Sie werden immer schneller atmen. Hyperventilieren. Einige von ihnen werden so viel Stress empfinden, dass der Tod sie noch am selben Tag holt, […].
Die Kreisläufe beschleunigen sich immer weiter, bis alle Kreisläufe aussetzen. Den Vorgang der Auflösung der Welt beschreibt Hagen in der Folge als einen Überschuss des Lebens, als eine Zuspitzung einer allem innewohnenden Kraft bis zu ihrem Verlöschen: „Danach wird alles, was existiert, unendliche Dunkelheit sein und niemand wird mehr versuchen können, es zu verstehen.“
Das besondere an Hagens Fantasie vom Ende ist dessen Darstellung weder als Schock noch als elendes Siechtum, sondern die Fokussierung auf die Kraft des Lebens, immer wieder von Neuem zu beginnen, noch bis zum letzten Moment. Bis zu den letzten Tagen werde sich das Leben immer wieder neu erschaffen, lässt uns die Erzählstimme wissen, bevor sie von der Makroebene der Welt auf die Mikroebene der Familie wechselt. Der Erzähler spricht direkt ein Du an, seine Mutter, und erzählt ihr im Folgenden, dass ihr Leben bereits im Bauch ihrer Großmutter angelegt war. „Doch bis zu den letzten Tagen wird sich das Leben immer wieder neu erschaffen. Dein eigenes Leben hat im Bauch deiner Großmutter begonnen: Schon früh in der Schwangerschaft bildeten sich die Eizellen im Fötus, der deine Mutter werden sollte, die Eizellen, aus denen später du entstehen solltest. Du warst da, im Bauch innerhalb des Bauchs, von Anfang an.“
Damit beginnt eine bemerkenswerte Genealogie. Das in der Logik der Erzählung noch ungeborene Kind konstruiert sich so als immer schon anwesendes Glied einer Kette von einander bedingenden Existenzen, die nicht erst mit der Geburt beginnen und nicht mit dem Tod enden. Die Stimme entblättert die Lebensgeschichte der Anderen als Vorgeschichte zum Sterben der Mutter und zuletzt zu ihrem Blick darauf: das Aufwachsen der Großmutter, der Krieg, ihre Schwangerschaften, die Lebensgeschichte der Mutter, ihre Krankheit. In der Vergegenwärtigung der Leben der Vorangegangenen als Teil des eigenen zeigt Hagen, worum es ihm trotz der großen apokalyptischen Gesten geht: Sein Schreiben offenbart ein Suchen nach einer Sprache für die Trauer über den Verlust eines nahen Menschen.
Und an dieser Suche nehmen wir als Lesende Teil, wenn wir uns auf Lass es sein/ Eine einsame Zeit einlassen. Denn die Krankheit der Mutter – so lernen wir – ist keine beliebige, sondern auf das Engste mit der Endzeitphantasie Hagens verknüpft: Es ist der Krebs, der ihr das Leben nimmt und der doch gerade nicht von außen hereinbricht, sondern sich aus den eigenen lebendigen Zellen heraus entwickelt. Hagens poetische Miniaturen deuten in ihrer Suche nach einem Ausdruck für die Trauer den Tod der Mutter als einen integralen Vorgang des Lebens. Was banal klingt, wird jedoch erst im Verlauf der zahlreichen kleinen Reflexionen der Sprache abgerungen. Am Ende steht das Wiedereingehen des Lebens ins Leben der Anderen und ein Neubeginn des Kreislaufs. Noch der letzte Atem der Sterbenden verbleibt in der Welt als Wind, der über das Meer streicht und von den Bäumen aufgenommen wird.
Der norwegische Titel des Bandes deutet Hagens Perspektive auf den Tod bereits an, indem er in seiner ersten Hälfte das mehrdeutige Verb å bli verwendet, das sowohl bleiben als auch werden bedeutet. La det bli lässt sich so einerseits als „Lass es bleiben“ übersetzen, andererseits aber auch als „Lass es werden“, eine nicht unbedeutende Doppeldeutigkeit. Denn das Vergehen, von dem uns die Miniaturen Hagens berichten, verweisen stets auch auf ein Werden, eine fortlaufende Umwandlung. Leben heißt Werden und noch das Sterben wird bei Hagen zu einem Vorgang, der anderes hervorbringt. Der deutsche Titel kann diese Doppeldeutigkeit nur schwer abbilden. „Lass es sein“ drückt eine Endgültigkeit aus, gegen die der Autor gerade anzuschreiben scheint. Der Einsamkeit der Trauer wird im norwegischen Original eine Ambivalenz vorangestellt, der es im Deutschen nicht notwendigerweise bedarf, die aber doch weitere Möglichkeiten zur Deutung eröffnet. So bietet Lass es sein/ Eine einsame Zeit zuletzt eine mögliche Antwort auf die Frage, wie über das Leben in all seiner Größe zu schreiben möglich wäre: vom Werden berichten.