„Ausverschnitt“, „Flucht“ und „Meidbewegung“

„Ausverschnitt“, „Flucht“ und „Meidbewegung“

Lange Zeit angekündigt, erscheint nun endlich eine breit angelegte Auswahl aus dem lyrischen Werk von Aimé Césaire, übersetzt und herausgegeben von Klaus Laabs bei Matthes & Seitz Berlin unter dem Titel Ein Mensch, der schreit. Versehen mit einem Frontispiz von Picasso, einem Porträt Césaires von 1949 in Seitenansicht, wird in dieser 334 Seiten starken Ausgabe jeder Gedichtband des karibischen Lyrikers, Dramatikers, Politikers Césaire in verschiedenem Umfang berücksichtigt, wobei auf die Gegenüberstellung mit den französischsprachigen Originalen verzichtet wird. Césaire, der als politischer Essayist (gemeinsam mit seiner Haltung als Lyriker) zu einem Mitgründer der postkolonialen Theorie und dekolonialen Praxis geworden ist, schrieb kontinuierlich, fast 70 Jahre lang, Gedichte. Er führte den Begriff Négritude gemeinsam mit Léopold Sédar Senghor und Léon-Gontran Damas ein, formulierte und untermauerte mit afrodiasporischen Kollegïnnen darin eine neue Haltung aus Schwarzer Sichtbarkeit, der sich Klaus Laabs in diesem Band von verschiedenen Seiten zu nähern versucht.

Das Buch Notizen von einer Rückkehr in die Heimat, in ganzer Länge abgedruckt, ein bereits klassisch gewordener Sog/Strom der Worte aus den Dreißiger Jahren, mit „Vorbei der fahle Morgen ...“ zu Beginn, mehrfach im Lauf der Jahre an verschiedener Stelle übersetzt und publiziert, findet sich ebenso in diesem Band wie aus dem letzten Zyklus von 1994 die Gedichte „Wie ein Missverständnis von Wohlergehen“ und „Ein Schluck für den Schlick“ als Abschiedsgruß. Über die gesamte Schaffensperiode Césaires, in Martinique beheimatet, zeigt sich seine politische Agenda, gepaart mit urtümlichem Fabulierdrang, drängenden, manchmal schwallartigen Rhythmen, einer ausfächernden Bilderkette, die Laabs weniger als Gesang übersetzt, denn als ein Tableau von Bedeutungen, das aus sich selber über sich hinauswächst. Hier einige gelungene Beispiele von Laabs‘ Übersetzungsideen: „Ich merke es deutlich an meinem Puls. Exotik ist kein Proviant für mich“, „ich lebe für das Platteste meiner Seele“, „Kreiseln in der Kalebasse einer Insel“, „weite Raben der Zukunft“, „o Pampelmuse“, „auf die schiefe Bahn geratene Sonne“, „eine Prise Vögel die ein Wind schürft“, „schlechtgerollte Felsen“, „alle nachgehenden Uhren“. Noch einige weitere gelungen übersetzte Stellen, die etwas vor dem Aufbruch thematisieren: „dein Gesicht / wie ein tief unten in einem See schlafendes Dorf“, „Europa / beachtlicher Name für einen Kothaufen“, „oder aber ich wohne in einer Zauberformel / nur in den ersten Wörtern“.

In den längeren Gedichten, die oft ohne Interpunktion auskommen, wird zu Beginn wie Luft geholt, um dann in einem langen Vers ausgeatmet zu werden, der sich, immer tiefer eingerückt, gegen das Seitenformat zu wehren scheint. Der daran anschließende Vers schießt darunter wieder vor bis an den Seitenrand, fast Ebbe- und Flut-artig, optisch in Strudeln, Verwirbelungen – buchstäblich brauchen die Verse und die Gedichte einen langen Atem beim Lesen und Vorlesen. Besonders die frühe Lyrik agiert auf diese Weise, bewahrt sich eine bisweilen ungezügelte Mündlichkeit, die gewiss nicht ohne Einfluss auf spätere Dichtungsverfahren wie den Beat oder Spoken Word geblieben ist: „das Meer ist ein großer Hund, der dem Strand die Kniekehlen leckt“. Die Präsenz der Ufer, der Insel-Topos, Auseinandersetzungen mit Historie, Bewohnerschaften, Mensch, Pflanze, Tier ziehen sich als greifbare, anschauliche Momente durch Césaires Zyklen, u.a. betitelt alsIch, Blatttang“, das „Seepferdchenlied“ oder „Die Zauberwaffen“. Zu letzterem gehört das Gedicht „Tamtam II“, in dem sich ein ganzes Arsenal an Vokabeln, Bezeichnungen, Begrifflichkeiten in Marsch setzt:

 

in kleinen Raupenregenschritten

in kleinen Milchschluckschritten

in kleinen Kugellagerschritten

in kleinen Erdstoßschritten

[...] in großen Sternschneisenschritten

Nachtschneisenschritten

 

Die lyrische Beschwörung von Mitteln, die ganz real wirken könnten auf dem Weg der Dekolonisation, aber auch eine universelle Sensibilisierung für Sprachermächtigung mit Gedichten als Träger, Überbringer von Perspektiven sind Grundzüge von Aimé Césaires Wortschmiede. In „Lagunenkalender“ steht – in Selbstreflektion von Rolle und Rollen – dies:

 

der atmosphärische Druck oder vielmehr der historische

steigert meine Leiden ins Unermessliche

selbst wenn er Pracht verleiht bestimmten meiner Wörter

 

Wo Césaires Rede erscheint, ist Kontroverse nicht weit, wie Klaus Laabs in Nachwort, einer Zeittafel und einem „ABCésaire“ der Worterklärungen aufzeigt. Oft zensiert, verfälscht, unvollständig herausgebracht oder in anderen Zusammenhang gerissen, wie das Nachwort erwähnt, wird der Spagat im Werk aus Lyrik und Politik greifbar. Césaires jahrzehntelange Tätigkeit als Bürgermeister der Stadt Fort-de-France, Regionalrat von Martinique und Abgeordneter der Nationalversammlung, seine Reden in Frankreich, der Kolonialmacht, als Engagement in der politischen Wirklichkeit haben die Rezeption des lyrischen Werks zu großen Teilen mitbestimmt. So gibt es in Frankreich bis heute nach Laabs keine vollständige Ausgabe der Werke Césaires trotz seines besonderen literarischen Status.

Ein interessantes Interview, eher ein Gespräch, aus den 80er Jahren mit dem Autor Daniel Maximin wirkt im Anschluss an die Lyrik offenherzig und menschlich, bringt die Spontaneität im Wesen Aimé Césaires nahe. Unter dem programmatischen Titel „Die Dichtung – das wesentliche Wort“ werfen sich die beiden die Bälle zu: „Ha, Sie haben es getroffen! [AC]“, „Schöpfertum, genau! [AC]“, „Jawohl, das Wort! [AC]“, „eine Landschaft, deren Kinder sich als zusammengehörig begreifen [DM]“, „einen Baum erfindet man nicht, man pflanzt ihn [DM]“, „ich denke wie eine Pflanze [DM zitiert AC]“, „Ja, Sie sehen, es gibt Konstanten! [AC]“ – Klaus Laabs‘ Übersetzung schlägt an dieser Stelle einen mitreißenden Tonfall an. Aimé Césaire eröffnet das Gespräch: „Das wesentliche Wort ist für mich die Dichtung. Ich meine, die Poesie, die Lyrik sagt mehr. Gewiss, sie ist dunkel, doch dies ist ein Minus, das sich in ein Plus verwandelt. Die Dichtkunst ist zwar das seltene Wort, weil sie aus den Tiefen kommt, genauer, aus den Urgründen; und darum werden die Völker mit der Poesie geboren“. Zum Schluss erwähnt Césaire die Bedeutung Frantz Fanons, der ebenfalls in Martinique geboren wurde: „Was man bei Fanon lernen kann, ist der große Atem, der große Entwurf [...]“. An früherer Stelle verläuft das Gespräch folgendermaßen: „DANIEL MAXIMIN: Also in verschiedenen Elementen; denn mit dem Baum haben wir die Erde, mit dem Vulkan das Feuer, und dann ist da noch das Wasser. Ist es die Luft, die Ihnen fehlt? / AIMÉ CÉSAIRE: Ja, darum gibt es auch bei mir dieses Verlangen nach Luft, dieses Anprangern der Erstarrung. Erstarrung! Sie ist auch auf die politische Ebene zu übertragen, und die Erstarrung, das Erstarrte, das zermalmt mich. Das ist in der Tat der negative Aspekt der Sonne: wenn sie nicht mehr obsiegende, sondern auslöschende Sonne ist. Ah, der Wind! Wind von den Mornen! Wind von hoher See!“

Ein Mensch, der schreit endet in seiner Materialabteilung mit einer (zweifellos nützlichen) Zeittafel, die Fakt mit Plauderton zu vermengen sucht und erst mit dem Jahr 2019 endet (Césaire stirbt 2009). Laabs schließt mit folgender kommentierenden Bemerkung: „An der Berliner JVA Tegel wird von dem Gefängnistheater aufBruch Shakespeares Der Sturm inszeniert, unter Verwendung der Adaption Césaires für ein théatre nègre; Dramaturgie: Hans-Dieter Schütt. Ganz so schwarz, womöglich gar wie Césaire selbst, ist die Truppe von echten ‚Knackies‘ zwar nicht, aber das ethnisch bunt gemischte Ensemble bespielt nahezu den gesamten historischen Klinkerbau mit Kraft und Leidenschaft.“ Die Sichtbarmachung von Césaires eigener Stimme und Tonlage wirkt im Herausgeben bisweilen übermotiviert, andererseits legt Laabs‘ Ausgabe Césaires Verständnis vom Umfang seiner Rolle und seines Spielraums offen.

Das kontroverse Werk wie Leben des Lyriker-Politikers Césaire scheint jeden wie auch immer gesetzten Rahmen zu sprengen, durch schiere Komplexität, Verzweigtheit, Kehrtwendungen im Zeitgeist. Eine studientechnisch nützliche Bibliografie rundet diese Publikation ab, die einen essentiellen, sorgfältig kuratierten Schritt für die deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem bedeutenden Autor Martiniques darstellt. Das herausgeberische Konzept allerdings lässt Aimé Césaires Stimme durch Kommentierungen, Anmerkungen auf über 50 Seiten Material nicht ganz allein für sich selbst eintreten. Lediglich das Gespräch, neben der großartig kräftigen, frisch wirkenden Lyrik, mit Instinkt für viele ihrer Aspekte übersetzt, kann sich einer zu einengenden Einordnung widersetzen. Ein Mensch, der schreit wendet sich in Laabs‘ eigener Art zunächst dem Verstehen der ausgewählten Gedichte zu, noch vor ihrem Klang, ihrem Liedhaften. Doch im Gedicht haust stets auch etwas nicht Auszumachendes, besonders wenn es aus sich selbst heraus Sprachwerte (und damit politische Werte) schöpft. Darin liegt ein Bestreben von Césaires Werk, wie sich in dieser schönen und reichhaltigen Auswahl zeigt. Ein Mensch, der schreit will etwas bewegen, beim Lesen in Bewegung setzen, „gegen die Erstarrung“.

 

Zu jener Zeit verschworen sich

das Wort Platzregen

und das Wort lockerer Boden

das Wort Morgendämmerung

und das Wort Späne

zum ersten Mal

 

Aimé Césaire: Ein Mensch, der schreit. Gedichte aus sieben Jahrzehnten. Übers. Klaus Laabs. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 334 S., gebunden, 34,- €.

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