Im Raum zwischen den Stimmen: Die Lyrik Yıldız Çakars

Im Raum zwischen den Stimmen: Die Lyrik Yıldız Çakars

Es kommt nicht oft vor, dass ein Gedichtband zugleich ästhetisch zwingend und kulturpolitisch unverzichtbar wirkt. Dunkles Siegel, der erste vollständig ins Deutsche nachgedichtete Gedichtband der kurdischen Lyrikerin Yıldız Çakar (1978 geboren in Diyarbakır), gehört zu diesen seltenen Fällen. Der Band öffnet einen poetischen Raum, in dem Körper, Erinnerung und Sprache so eng miteinander verschränkt sind, dass sich individuelle Erfahrung in kollektive Geschichte verwandelt.

Die deutsche Ausgabe versteht sich nicht als Übersetzung im engen Sinn, sondern als Nachdichtung – eine poetische Neuschöpfung, verantwortet von Tobias Roth und getragen von der aus dem Kurdischen erarbeiteten Interlinear-Übertragung durch İsabella Berivân und Mario Pschera. Damit wird sichtbar, dass hier ein Text im Deutschen neu zum Sprechen gebracht wird. In Walter Benjamins Sinn reproduziert Übersetzung nicht das Original, sie setzt ein Werk „durch andere Mittel“ fort. Genau in diesem Zwischenraum entfaltet Dunkles Siegel seine Kraft: Die Gedichte sprechen mit einer doppelten Stimme, die zugleich aus Kurdistan und aus der Gegenwart des deutschsprachigen Exils klingt.

Das Eingangsgedicht „Dunkles Siegel“ ruft eine archaische Körpersemantik auf – Blut, Erde, Wiege, Mutter –, doch diese Motive wirken nicht folkloristisch, sondern fungieren als anthropologische Marker einer verletzten Genealogie. Der Körper ersetzt die historische Chronologie; er wird zum Archiv dessen, was nicht verschriftlicht wurde. Die Sprache ist hart, aber nie ornamental. Ihre Härte verweist auf die Unmittelbarkeit des Traumas. Das Gedicht beschreibt den Schmerz nicht; es spricht aus ihm. Das zeigt sich in Bildern, die nicht erklären, sondern einschneiden:

So siegelten sie den Grabstein,
gravierten ihn mit schwarzer Schrift.

Geschichte erscheint hier nicht als erzählbarer Zusammenhang, sondern als Gewaltakt an Körpern und Beziehungen. Wenn „die Milch in der Brust versiegt“ und „der Sauerteig verdirbt“, wird Verlust nicht symbolisch abstrahiert, vielmehr leiblich erfahren. Besonders deutlich wird dies dort, wo sich das Gedicht jeder versöhnenden Perspektive verweigert:

Wann immer das Herz rief,
kehrte nur ein Echo zurück

Der Blick bleibt offen, ohne Erlösung:

Auf diesem Thron erkal­tete das Leben und beide Augen
blieben geöffnet
im Spiegel des Zimmers.

 

In „kann es nicht erinnern“ verlagert sich die poetische Bewegung vom Ursprung eines familiären und historischen Verlusts – von Gewalt, Trennung und genealogischem Bruch – zur Gegenwart des Exils. Die Gedichte operieren mit einer fein gearbeiteten Sinnespoetik, die zeigt, wie Geruch, Licht, Wind und Klang im Exil ihre Verlässlichkeit verlieren. Heimat ist hier nicht geographisch bestimmt, sie erscheint – im Einklang mit Aleida Assmanns Überlegungen – als „Erinnerungsraum“, der an Körper und Sinne gebunden ist.

Der Verlust der Heimat äußert sich als Störung der Wahrnehmung: Die Welt fühlt sich an wie eine verschobene Textur, deren Zeichen nicht mehr gelesen werden können. Diese Entfremdung wird bei Çakar dialogisch inszeniert, als müsse sich das Subjekt vor den Elementen rechtfertigen: „sagte die Erde“ – und doch bleibt nur die tastende Frage: „[…] Kann diese Erde, die meinen Kummer umfängt,/ mir ein Zuhause sein?“ Heimat erscheint damit nicht mehr als Ort, sondern als prekäre Sinnesbindung, die höchstens noch im Imaginären aufscheint: „Ich bin in einem Traum zu Hause,/ in einem Traum von einer gelben warmen Erde“. Es entsteht eine Poetik der Desorientierung, die nicht dramatisiert, sondern präzise beobachtet. Diese leise Irritation gehört zu den stärksten literarischen Effekten des Bandes: Erinnerung wohnt im Körper – und Exil heißt, dass der Körper keinen Ort mehr findet, der ihm antwortet.

Der Zyklus „Wenn du nur könntest“ führt eine weitere Verschiebung ein: Die Gedichte wenden sich einer zweiten Person zu, einem Du, das zugleich geliebt, erinnert und verloren ist. Die repetitive Struktur („wenn du nur könntest…“) hat etwas Beschwörendes, aber auch etwas Forderndes. Sie knüpft an die mündliche Tradition kurdischer Dichtung an und erzeugt einen Rhythmus, der das Gedicht zugleich vorwärtstreibt und innehalten lässt.

Heimat wird hier nicht als Ort gedacht, sondern entsteht im Zwischenraum zweier Stimmen. Die Beziehung – nicht das Territorium – wird zur Grundlage des poetischen Subjekts. Heimat wird relational. Sie entsteht nicht durch Rückkehr, sondern durch Anrufung.

„Schwermut“, einer der eindringlichsten Zyklen des Bandes, wendet sich nach innen. Die Sprache ist ruhig, fast nüchtern. Die Toten, die nicht begraben sind, die Stimmen, die weiter sprechen, die Müdigkeit, die sich nicht abschütteln lässt – all das wird ohne Pathos formuliert.

Die genealogische Fragilität, die schon in „Dunkles Siegel“ angelegt war, wird hier spürbar: Die Mutter-Tochter-Linie ist gebrochen, Sprache und Geschichte verlaufen nicht parallel, sondern reiben sich aneinander. Die Gedichte schaffen keinen Trost, aber eine Form der gedanklichen und affektiven Klarheit.

Die translatorische Notiz von Tobias Roth, die den Band begleitet, ist weit mehr als ein paratextueller Kommentar. Sie legt offen, dass die deutsche Version der Gedichte nicht sekundär ist, sondern selbst poetischer Handlungsraum. Die Nachdichtung bewahrt die Widerständigkeit und Körperlichkeit der kurdischen Vorlage, ohne sie zu exotisieren, und öffnet sie zugleich für ein anderes poetisches System.

Dunkles Siegel ist ein Gedichtband, der keine schnellen Urteile zulässt. Seine Stärke liegt nicht in großen Gesten, sondern in der konsequenten Bildarbeit, die archaische Motive und moderne Exilerfahrung ineinander schiebt: Erde, Milch, Wind und Grabstein stehen neben Straßen, Winternächten und verschobenen Koordinaten; die Bilder wandern zwischen Kurdistan und Deutschland, ohne ihre Herkunft zu glätten. In dieser klar geführten, körpernahen Sprache zeigt der Band, wie Poesie in Zeiten politischer Gewalt zu einer Form des Überlebens werden kann – nicht als Symbol, sondern als Praxis. Die Gedichte bewahren nicht nur Erinnerung; sie schaffen sie.

In einer literarischen Öffentlichkeit, in der kurdische Dichtung bislang kaum präsent ist, markiert Dunkles Siegel einen wichtigen Einschnitt. Der Band macht eine Lyrik sichtbar und hörbar, der das Exil nicht äußerlich beigegeben, sondern tief eingeschrieben ist – in Bildern, Rhythmen und Wahrnehmungsweisen. Damit öffnet er einen Raum, in dem kurdische Erfahrung nicht erklärt oder vermittelt werden muss, sondern sich poetisch selbst artikuliert. Dunkles Siegel ist somit nicht nur ein singuläres Buch, sondern ein Anfang: ein Band, der auf weitere Übersetzungen, Nachdichtungen und Stimmen hoffen lässt. Ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern weitergehört werden sollte.

 

Yıldız Çakar: Dunkles Siegel. Mohra Reş. Gedichte. Kurmanci–Deutsch. Aus dem Kurmancî von İsabella Berivân und Mario Pschera. Nachdichtung von Tobias Roth. Dağyeli Verlag, Berlin 2025, 96 S., geb., 20,– €.

Rentnerlyrik und die hemmungslose Feier der Arrhythmie

Rentnerlyrik und die hemmungslose Feier der Arrhythmie