„Eine Umgebung ist ein Beispiel.“
Das neue Buch von Ron Winkler heißt Unterwegs in der Verformung und beginnt im ersten seiner vier Kapitel mit einem Text darüber, wovon die im Titel bezeichnete Verformung ausgeht:
Nach all den Tagen kann ich noch immer nicht sagen,
wie groß ein Gedicht sein muss für das.
[…]
Tote bei und Tote durch und Tote mit. Und Tote in und Tote wegen.
Die Weltkarte zeigt nur noch Ukraine. Das Wetter: Ukraine.
[…]
Die „FINISTÈRE“ überschriebene Doppelseite erweckt mit ihren allein stehenden Versen, die wie Strophen für sich erscheinen, den Eindruck von Inschriften. Wir lernen erstens, es geht darum, dass der Ukrainekrieg nicht und nicht aufhört. Seine Spuren sind überall, so ubiquitär, dass sie hier (wo auch immer in Westeuropa hier wäre) wiederum stets uneindeutig bleiben, im Allgemeinen statt im Speziellen, also prädestinierte Gegenstände poetischen Nachspürens. Und wir lernen zweitens, jemand – unser Textsubjekt – sei Vater:
Alles, was mein Kind seit März aus Legosteinen baut, ist Ukraine.
Der Texttitel an seinem Anfang gibt dem ganzen Buch das Setting oder die Blickrichtung: Wir stehen, wo das metaphorische Land zu Ende ist, und haben gerade noch festen Boden unter den Füßen: der Zustand der Welt ist ein Ausnahmezustand, dem Augenschein nach müsste der Alltag eigentlich suspendiert sein, aber er ist es nicht, er geht weiter.
Entsprechend das zweite Kapitel: mehr oder weniger prosaische Poeme, trotz Prosa gleichwohl sehr jambisch, handelnd von ca. einem Autorenalltag mit u. a. Baby und/oder Kleinkind. Gelegentlich fragt man sich, was genau es ist, das der Text inszeniert: Ansprache an die Lebensgefährtin, ans Kind, an das eigene Selbst des redenden Subjekts? Und: ändert sich das unter der Hand? Je länger sie läuft, desto mehr geht die Alltagsschilderung dorthin, wo es auch weh tut, berührt Erschöpfung, Überforderung, Entfremdung der Eltern eines Kinds voneinander. Zugleich geht sie ins Existential, genauer dorthin, wo kunstvoll poetisches Sprechen nicht sofort von jenem anderen Sprechen unterscheidbar ist, mit dem Erwachsene ihren vorbehaltlos fragenden Kleinkindern antworten, da denen solche Trennungen wie un- und -wirklich, innen und außen noch nicht so recht verlässlich einleuchten:
Wo kommt die Ähnlichkeit bloß her, mein Kind?
Die Ähnlichkeit kommt aus dem Wald und ist also erwiesenermaßen
furchtbar alt. Die Ähnlichkeit kommt aus dem Schnee,
was ich fast täglich seh. Die Ähnlichkeit kommt aus dem Brunnen
von Marie Curie. […]
Winkler bildet in diesen Miniaturen den wirtschaftlichen bzw. sozialen Druck deutlich ab, der auf den etwas-besser-gestellten Eltern zugleich lastet und den sie reproduzieren – es soll dem Kind an nichts fehlen, es soll den Stress nicht abbekommen, die Abstiegsangst … Das Surrealwerden der vorscheinlich realistischen Schilderung durch Märcheninventar, mittelhochdeutsche Einsprengsel, Vokabeln aus dem ideologischen Bestand der Selbstoptimierung legt die Lesart nah, dass die Idee, individuellen Lebensvollzug und Familie-Sein als „Unternehmen“ zu sehen, sehen zu sollen, ihrerseits ein Aberglaube aus dem Märchenwald sei. Was der Forderung, sich ökonomisch zu verhalten, ihre Gewalt nicht nimmt …
Kapitel drei umfasst winterliche Gedichte, wiederum jambisch, deutlicher als in Kapitel zwei aufs Jambischsein gearbeitet, vom poetischen Atem geformt. Mutmaßlich bleiben die Figuren, bleiben die Subjektpositionen die gleichen wie vordem – ein emotional in der eigenen Erschöpfung, Zerfranstheit ruhender Vater, mit Kindern und geliebter Kindsmutter – aber diesmal sind wir nicht in seinem/deren Alltag, sondern in winterlichen deutschen Landschaften, mutmaßlich Uckermark, Ostsee, Greifswalder Bodden. Es sind die letzten beiden Gedichte dieses Kapitels, die die vorherigen rückwirkend aus dem Diffusen sich aufbauender Spannung holen. Sie sagen uns, das Selbstgefühl des „normalen“ Familienvaters angesichts weiter Himmel bzw. Landschaften und angesichts von Infrastruktur, die sich ihrerseits als Landschaft oder gar Natur geriert, – es läuft, wenn ihm konsequent nachgespürt wird, auf folgenden Doppelschritt hinaus: zuerst auf das Empfinden der Kürze der Geschichte – wie nah die letzte Eiszeit eigentlich zurückliegt und wie menschenleer die Welt hier gerade noch gewesen sein muss –, und dann auf das, was im kurzen ersten Kapitel verhandelt wurde: die Kleinheit der Welt, die Verwobenheit der Leute und Sachen in ihr. Jeder zweite bis dritte Eindruck birgt in sich die Erinnerung an mindestens eine der vielen Katastrophen, die zeitgleich mit dem Objekt des Eindrucks in der Welt sind. Eben noch war Jungsteinzeit, und die paar wenigen Menschen, die es gab, wurden von der weiten Landschaft gleichsam verschluckt – dass das so war, merken wir daran, dass es wieder so ist, bloß sind es andere Landschaften: Mittelmeer, Geflüchtetenlager, Krieg … Und was dem Vatersubjekt an möglichen Gesten und Ritualen unterkommt, um damit umzugehen, für sich und die Seinen, es ist erkennbar substantiell nichts anderes, als es die Fetischzauber einer in verstreute Clans organisierten Gesellschaft waren:
[…] dein Herz so vornehm blass,
als hättest du gespendet. […]
Die alltägliche und die kreatürlich-existentielle Seite der Elternschaft müssen auch nicht rekontextualisiert werden, um ihre politische Dimension zu offenbaren:
[…]
Eine Umgebung gibst du, lebst du.
[…]
Eine Umgebung ist ein auf Grundlage der umfassenden Scheiße
nicht näher definierter Ort.
[…]
(Und wie sehr Winklers Landschaften schon ohnedies leer sind, nämlich der Erfahrungen aus der Pandemie wegen – wer weiß? Erwähnt wird die Pandemie als Teil des eben zuhandenen Erfahrungshorizonts.)
Dann Kapitel vier. Es beginnt mit einem Gedicht über verkehrte Kausalität in der betrachteten Natur, also über falsch wahrgenommene Realität, betitelt „Auswirkung von Betrachtung“:
Zunächst setzte der Baum sehr kleines Obst an,
das nach und nach in Blüten überging.
[…]
Auch Abwinken ist ein Vorgang,
den man mit Abwinken beenden kann. […]
Es lenkt unseren Blick von der Bibel ins Florale und von da in den Himmel der Raumfahrt, und die Anordnung legt wiederum nah: das Zeitalter von Menschen-auf-der-Erde-als-der-Normalzustand, es nähert sich seinem Ende, so oder so, und das „Abwinken“ erinnert an T. S. Eliots „The Hollow Men“:
This is the way the world ends
This is the way the world ends
This is the way the world ends
Not with a bang but a whimper.
Auch in Kapitel vier kehrt die Frage mehrmals wieder, was eine Gegend (bzw. siehe oben, eine „Umgebung“) zur Gegend macht, das heißt: wie sich ein notwendig bloß ästhetisch vermittelter Gesamteindruck greifbar machen lässt, objektivierbar: Wo verläuft die Grenze von Mensch und Natur, Mensch-als-umherschweifendes-Tier und Gesellschaftswesen? – Und kaum haben wir die Frage nach der „Gegendhaftigkeit“ registriert, sind wir gleichsam auf den letzten Metern von Unterwegs in der Verformung, das heißt, in jenen abschließenden sechs Poemen, die alle im Namen den Ausweis einer Gegend im Sinne jener Frage führen, oder zumindest von Orten, die sich dann als Gegenden erschließen: „Bora“, „Hiddensee“, „Mondsee“, „Jena“, „Rom“ und zum Schluss noch „Das Mädchen mit dem amputierten linken Arm im Zug nach Ostia Lido“. Dass alles Menschliche seinerseits Natur, Landschaft ist oder dazu wird oder geworden ist, trägt Winklers Textsubjekt hier noch einmal mit Nachdruck vor:
Reflexhaft sah ich kleinere in größeren Naturen.
Im langen Romgedicht wird diese „Gegendhaftigkeit“ an konkreten, der Leserin geläufigen Beispielen durchgespielt: Winklers Rom ist Brinkmanns, dann Goethes Rom, ist eine Menge Bildungsgut, das sich so, so und so gruppieren lässt. Beinahe humorig wird diese Vorführung, varietéhaft – „die Historie tanzt“, ohne mit dem Gestus des restlichen Buches zu brechen.
Insgesamt scheint das Programm von Unterwegs in der Verformung zu sein, darzustellen, dass die unabweisbaren geopolitischen und massenpsychologischen Sachverhalte der Gegenwart zugleich (a) nicht ignorierbar sind, wie uns Kapitel eins vorführt, und (b) schlechterdings ignoriert werden müssen, um individuell nicht wahnsinnig zu werden – eine Gleichzeitigkeit, die auf die Lebensweisen im sogenannten Westen einen omnipräsenten, diffusen Druck ausübt. Es gibt tatsächlich nichts Bestimmtes zu tun, und was es zugleich (Konjunktiv!) zu tun gäbe, verformt nicht so sehr die Wahrnehmung als vielmehr die Wirklichkeit selbst – Geografie, Geschichte, Beziehungsleben. Was den Bann lösen könnte, bleibt verborgen:
[…] Nimm Himmel
aus dem Bach, das Sichtbare, wie es dem See zufließt. Vorbei
auch an der hellen Unkenntnis der Kinder. Dem See zu,
dessen Wellen an den großen Fehler schlagen.
[…]
Dieses Zitat, wie das vorherige, stammt aus dem Gedicht „Mondsee“, welches im Kleineren das Motiv vom Anfang wieder aufnimmt (wo das eröffnende Gedicht just „FINISTÈRE“ hieß) – Ufer und Wasser. Nur haben sich die Bedeutungen verkehrt: vordem stand man (gerade noch) am Ufer auf schwindendem, aber festen Grund. Jetzt ist das Ufer – unser Standort in der Welt – „der große Fehler“, und es haben dagegen die Wellen ihre Richtigkeit. Etwas blieb fälschlich ausgespart, und das verformt uns. Soweit in meiner Lesart der bemerkenswert gegenwärtige Lyrikband Ron Winklers.

