Daniela Seel - Nach Eden

Daniela Seel - Nach Eden

„Eva ernst nehmen“ – mit diesem Vers lässt sich das Vorhaben von Daniela Seels Nach Eden zusammenfassen. Die kookbooks-Verlegerin und -Gründerin, Übersetzerin und Autorin legt mit ihrem vierten Gedichtband eine Sammlung vor, in dem die Perspektive der biblisch ersten Frau leitend ist und emanzipatorische Kraft entfaltet. In gedanklicher Feinheit, klanglichem Reiz und formaler Vielfalt bricht Seel mit patriarchalen Ordnungsprinzipien, die auf erschreckende Weise immer noch fortwirken. Eva ist hier nicht Verführerin zum Bösen, nicht Verfluchte, sondern Wissensdurstige, vom Erkenntnishunger Getriebene und eine Frau, die Verantwortung für sich und ihre Entscheidungen übernimmt.

Nicht nur die feministische Perspektive prägt Nach Eden, sondern auch der Bruch mit der idealisierenden Vorstellung des Garten Edens als Paradies. Etymologisch hergeleitet meint ‚Paradies‘ etwas Umzäuntes, Begrenztes. „Von Eva her denken zieht daraus aus, setzt dem eine Frist“, heißt es im Band. Das Verlassen von Eden ist hier auch universell nicht als Rauswurf, sondern als selbstbestimmter Auszug in Zeit und Sterblichkeit gedacht.

Ausgehend von diesem thematischen Kern kreist das „Essay-Gedicht“, wie Seel den Band in einem Gespräch nennt, um gegenwärtige und historische, persönliche und philosophische Aspekte. Dabei ist Gewalt ein verbindendes Element – an Frauen, unter anderem in der Geburtsmedizin, an Kindern während der sogenannten „Euthanasie“-Morde in der NS-Zeit, und an Migrantïnnen, die die Begrenzung des idealisierten Paradieses Europa als todbringend erfahren. Der thematischen Breite entspringt auch eine formale Varianz: Die Lyrik tastet mal poetisch klangvoll, mal neigt sie zum Prosagedicht, mal verästelt sie sich geradezu hölderlinisch. Mehrere Stimmen sind zu hören, die zwischen persönlicher Selbstbefragung, intimen Kurzdialogen mit Kindern oder längeren Zitaten aus historischen Quellen wechseln.

Die gedanklichen Impulse gewinnen umso mehr Gehalt, als die Sprache dabei immer wieder neue Horizonte eröffnet. Seel nimmt Sprache beim Wort, etwa wenn die Stimme einer Mutter ihr totgeborenes Kind fragt: „Bist du mir nun, da du mir vorausgingst, Vorfahrin?“

Nicht alle Fragen werden beschlossen mit einem Fragezeichen, viele enden mit einem Punkt, vor allem, wenn es um historische Schichten der Gewalt geht:

 

Dass dort hinter der Böschung

ein geheimer Friedhof für mehrere hundert

ermordete Kinder lag, Leichen in Gräbern gestapelt,

das jüngste kaum ein Jahr alt, wusste ich nicht. Warum.

 

Die Frage wird zu einem Teil der Antwort, sie ist nicht hilflos, ohnmächtig, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis. Die lyrische Stimme fragt nach dem bis in die 1980er Jahre anhaltenden Schweigen über die Kinder-„Euthanasie“-Morde im Frankfurter Kalmenhof. Dort entlang führte einer ihrer Schulwege, der andere vorbei an einem Verlies, in dem zahlreiche Frauen als angebliche Hexen vor ihrem Tod gefoltert wurden. Die Gedichte machen das Schweigen darüber hörbar.

Der Auszug von Eva aus dem Paradies lässt auch eine Ordnungsgewalt hinter sich, die das Denken und Sprechen formt: „Die Ordnung des Gartens geht fehl. Ein Garten scheidet, in Kraut / und Unkraut, Nutzpflanze und Zierpflanze, Nützling und Schädling“, wie es im ersten Gedicht heißt. Diese Logik zu verlassen, macht Nach Eden nicht nur intellektuell, sondern auch poetisch zu einer Erkenntnisfrucht, die in ihrem individuellen Geschmack lange nachwirkt und deren Kern ein Denken „nach Eva“ enthält, das uns Nachgeborene jeden Geschlechts zu tragen vermag.

 

Daniela Seel: Nach Eden ,Suhrkamp, Berlin 2024. 90 S., gebunden 22– €.

Zwischen Fluss und Meer

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