Lyrik auf Wiesen und Aschen. Lebende, Tote und Geister der Poesie unterhalten sich.

Lyrik auf Wiesen und Aschen. Lebende, Tote und Geister der Poesie unterhalten sich.

Ein Bericht vom Poesiefestival (aus dem silent green; Mort; Nguyen; Hyesoon)

Das Internationale Poesiefestival Berlin feiert in diesem Jahr sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen – veranstaltet vom Haus für Poesie, ist es das größte seiner Art im deutschsprachigen Raum und seit längerem auch das größte in Europa. Von den traditionellen Lesungen in den Berliner Bezirken abgesehen, fanden die Veranstaltungen im Kulturquartier Silent Green statt, die beiden Abschlusstage in den angestammten Räumen der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Wie in jedem Jahr konnte man auch in diesem nicht nur bekannten Lyrikerinnen aus aller Welt begegnen (vom „Writing Sports Day“ abgesehen ausschließlich Frauen), sondern auch viele Entdeckungen machen. Der Verfasser hat Poesiegespräche mit der ukrainischen Lyrikerin Valzhyna Mort und mit der vietnamesischstämmigen Dichterin Diana Khoi Nguyen besucht, die in den Ateliers des Silent Green stattfanden, und einen großen Abend mit der südkoreanischen Dichterin Kim Hyesoon und ihren Übersetzern im Kuppelbau.

 

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Valzhyna Mort lebt aus nachvollziehbaren Gründen schon seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr in ihrer weißrussischen Heimat, sondern in den Vereinigten Staaten, wo sie an der Cornell University unterrichtet. Die deutsche Übersetzerin ihrer weißrussischen Gedichte ist seit jeher Katharina Narbutovic, die Übertragungen ihrer auf Englisch geschriebenen Lyrik stammen von Uljana Wolf. In ihrem Poesiegespräch mit Wolf las Mort Texte aus ihren bereits vorliegenden deutschsprachigen Buchveröffentlichungen, vor allem aber Gedichte jüngeren Datums, die nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine entstanden sind, mit dem sie sich thematisch auseinandersetzen, der sie aber auch in ihrer Poetik spürbar beeinflusst. Der und insbesondere dieser spezielle Krieg zogen sich implizit und oft auch explizit durch praktisch alle Texte.

 

Morts Ausführungen zu ihrem Schreiben insbesondere nach dem Kriegsbeginn in Februar 2022, den die Autorin bei Stipendienaufenthalt in Rom erlebt und der ihre dortigen Schreibvorhaben über den Haufen wirft, waren oft nicht weniger poetisch als die Texte selbst. Wir halten Snippets aus beidem nebeneinander, ohne sie zuzuordnen:

„am I speak in poetry or in prose“

„music in poetry is a kind of shape, you can see“

„aus rippen von kühen machte ich ein nest“

„poets think in birds“

„am I speak in poetry or in prose“ … Mort sagte in diesem Zusammenhang, dass sie sich weigere, ästhetische Geschlossenheit herzustellen, wo die verhandelten Geschehen und ihre Wahrnehmung instabil, in sich zerfranst und ausgangsoffen sind, und Sinn zu behaupten, wo sie offenkundig keinen Sinn ergeben. Ihr Gedicht „Neujahrsgedanken über die Große Klette“ (Seasonal Questions about Burdock) endet mit den Zeilen: „Und der Verlust? / Welcher Verlust? // Man weiß ja nie.“

Am Ende des Gesprächs mit Wolf kam es zu einer Wendung, die auch für die Diskussion von Interesse sein könnte, die in den USA vor allem von Schwarzen Autoren darüber geführt wird, dass ihre englische Muttersprache die Sprache ihrer (einstigen) Unterdrücker ist. Mort führte aus, dass sie ihre Muttersprache seit dem von Weißrussland unterstützten Krieg nicht mehr einfach als Medium poetischer Darstellung nutzen könne, und für das – für sie – unversehrte, souverän über seine Mittel verfügende Englische dankbar sei, das es ihr ermögliche, sich schreibend überhaupt zu diesen Ereignissen zu verhalten. Ihr Gedicht „Maker’s March“, das sowohl im Englischen Original als auch in Wolfs deutscher Übersetzung vorgetragen wurde, schließt (auch) diesbezüglich ambivalent und, um im Bild zu bleiben, kämpferisch: „ein nest / aus eis / vermodert nicht // es ist / mein / fest“. Auf die Berliner Rede zur Poesie, die Mort im nächsten Jahr auf dem Festival halten wird, darf man schon jetzt gespannt sein.

 

2
Einen interessanten Einblick in die Lyrik und Poetik der vietnamesischstämmigen Dichterin Diana Khoi Nguyen konnte man im Gespräch mit Birgit Kreipe gewinnen, die Khoi Nguyens Gedichte und ihren empfehlenswerten poetologischen Essay (siehe hier) für das Festival übersetzt hat. Den Eltern Khoi Nguyens gelang es, im Vietnamkrieg nach Kalifornien zu emigrieren, wo sie geboren wurde und aufwuchs. Ihre Erfahrungen mit dem Leben zwischen zwei Kulturen, von denen eine selbstverständlich ist, während die andere als Leerstelle und Verlusterfahrung in der Familie anwesend ist, hat sie in zwei Gedichtbänden verarbeitet. In Ghost Of (2018) beschäftigt sie sich mit dem Suizid ihres Bruders, der sich Jahre zuvor bereits aus den Familienfotos herausgeschnitten hatte, in Root Fractures (2023) noch einmal vertieft mit Fluchterfahrungen und Migrationsgeschichten ihrer Familie. In beiden Bänden fällt eine Vielzahl lyrischer Formen in Auge: Neben Prosagedichten und Textarchipelen finden sich Umriss- und Figurengedichte, Text-Bild-Montagen und Palimpseste; auch dokumentarische Fotografien und grafische Elemente werden einbezogen. Kreipe stellte heraus, dass dieses Formenrepertoire in jeweils in buchlange Kompositionen eingebunden sei, die wie genau kalkulierte Partituren auf sie wirkten. Sie fragte nach Khoi Nguyens Poetik des „negativ space“, die aus dem Interesse der Dichterin an unterschiedlichen Zuständen  und Nuancen von Ab- und Anwesenheit hervorgeht. Unmittelbar augenfällig ist diese Poetik in Gedichten, die in die Leerstellen der Familienfotos hinein und um sie herum geschrieben sind. Wie ihre Thematik selbst, die sich in weiten Teilen außerhalb artikulierter Kommunikation vollzieht und sich einer Versprachlichung entzieht, teilen sich in den grafischen Figuren dieser Texte eigene und fremde Tätigkeiten des Fotografierens, Ausschneidens, Scannens, Montierens und Auslassens mit, die vor dem Schreiben stehen, es begleiten und beeinflussen. Die Erinnerungsarbeit und Reflexion, die diesen gestaltwandlerischen Gedichte zugrunde liegt, ist mit einer sprachlich präzisen, unnachgiebigen Trauerarbeit er Dichterin verbunden, die unabschließbare Vergangenheit adressiert, per se Unsagbarem indirekt Kontur verleiht und sich auf Innen- und Außenwahrnehmungen der Gegenwart öffnet. Das Gedicht „Overture“ endet wie folgt:

 

Surely it cannot go on much longer, this desert oasis

Surely it cannot go on much longer, this desert

                                                                                     in which the jet black

              inkwell of my eye

                                                  spills, staining the ants who come to see.

 

3

Ein Höhepunkt des Festivals war der Abend mit der südkoreanischen Dichterin Kim Hyesoon im bis auf den letzten Klappstuhl und zugestellten Sitzsack vollbesetzten Kuppelsaal des Silent Green. Anlass zu diesem Auftritt Hyesoons, die bereits 2023 eine viel beachtete Berliner Rede zur Poesie auf dem Festival gehalten hat, war die deutsche Übersetzung ihres Gedichtbands Autobiografie des Todes von Sool Park und Uljana Wolf, die im vergangenen Jahr (ausgestattet mit Zeichnungen von Fi Jae Lee) bei S.Fischer erschienen ist.[1] Dass eine „Autobiografie des Todes“ in einem ehemaligen Krematorium vorgestellt wurde – es hätte sich kein besserer Ort dafür denken lassen. Vorgestellt wurde sie durch Lesungen zahlreicher der koreanischen Gedichte von Hyesoon, zu denen Park und Wolf ihre deutschen Fassungen vortrugen. Im Gespräch der beiden Übersetzer mit ihrer Autorin kamen Hintergründe und Reflexionen zum Gegenstand des Buches und seiner Konzeption zur Sprache, die sich ähnlich auch in einem Interview mit Hyesoon im Gedichtband nachlesen lassen. Die Anzahl der Gedichte von „Autobiografie des Todes“ (das Buch enthält außerdem das Gedicht „Gesicht des Rhythmus“), bezieht sich auf die 49 Tage, an denen im koreanischem Volksglauben die Seele des Verstorbenen zwischen Himmel und Erde weilt, bevor sie unsere Welt endgültig verlässt. Der Alltagslogik nach kann eine ‚Autobiografie des Todes‘ nicht die eines lebenden Verfassers sein, und doch ist sie in diesen Gedichten immer – auch – eben das. Hyesoon sagt dazu, dass Dichter womöglich „den eigenen Tod passiv wiederholen, um so dem Töten Widerstand zu leisten“.[2] Eine Möglichkeit, die für ein solches Unterfangen nötige Distanz zum eigenen Subjekt einzuziehen, sind Selbstansprachen in der Du-Perspektive, die sich in vielen Gedichten des Bandes finden. Hyesoon berichtete in diesem Zusammenhang von einer Nahtoderfahrung, bei der sie aus ihren Körper heraustreten und ihn von außen am Boden liegen sehen konnte. Dezentrierungen und Verschiebungen des Subjekts der Artikulation in Objekte und Geschehen, die in vielen Gedichten auftreten und deren Nachbildung im Deutschen den Übersetzern einiges an Arbeit abverlangt haben dürfte, sind bereits in der koreanischen Syntax angelegt, die keine definierte Subjektposition kennt. Hyesoon ist eine bildstarke und erfinderische Dichterin, dazu eine Meisterin der eigensinnigen Verknüpfung und des Grotesken – Momente, die durch den Kulturtransfer koreanischer Motive und Perspektiven verstärkt und von ihrer ikonischen Bühnenpräsenz noch unterstrichen wurden. Der Form nach hat man es bei den Gedichten mit Mikroerzählungen, Erörterungen und Meditationen zu tun, die oft auch ineinandergreifen, vom Gestus her um eine anarchische, dezidiert weibliche Inbeziehungsetzung zum Tod, in der sich emanzipatorische, kulturspezifische und archaische Momente verschränken. Auszüge aus Hyesoons Gedichten, die unterschiedlich angelegt sind und in Serie gelesen werden wollen, bilden diesen Kosmos nur andeutungsweise ab. Wer nicht davor zurückscheut, sich mit dem eigenen Tod zu konfrontieren, ihn zu durchreisen und ein Stück weit auch zu transformieren, dem sei diese Autobiografie empfohlen.

 

Stiefmutter ist tot. Sie ist jetzt tot.

Das Schweigen der schimmernden Idiotin

hebt das Haus hoch

schmeißt das Haus hin.

Grundwasser schießt heraus.

[1] Kim Hyesoon: Autobiografie des Todes. Aus dem Koreanischen von Sool Park und Uljana Wolf. Frankfurt am Main 2024.

[2] Kim Hyesoon: Ein Dichten namens „Wahrnehmungsuniversum“. Interview mit Sool Park und UljanaWolf. In: dies., Autobiografie des Todes, S. 123–143, hier S. 125.

Gespenster, Leerstellen, blinde Flecken

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