Schwellen, Übergänge
Zu Nadja Küchenmeisters Der große Wagen
Mit einem Blick in den Nachthimmel beginnt Nadja Küchenmeisters vierter, wie die übrigen drei bei Schöffling erschienener Gedichtband – einem Blick, der nicht nur auf den titelgebenden großen Wagen fällt, sondern auch auf „alles, was war“. So wird bereits im ersten Vers ein Spannungsfeld von Wahrnehmung und Erinnerung, Gegenwart und Vergangenheit eröffnet. Es ist jedoch keine Gegenüberstellung dieser vermeintlichen Pole, die sich hier andeutet. Der große Wagen ist vielmehr ein Buch der Schwellen und Übergänge. Es führt durch Städte und Lebensphasen, lässt Zeiten und Orte ineinander über- und wieder auseinandergehen und unternimmt dabei nichts weniger als eine poetische Ergründung existenzieller Erfahrungen von Verlust und Unwiederbringlichkeit. Der Text findet dabei als Langgedicht eine Form, die auch jene zarte, melancholische Klarheit, die charakteristisch ist für Nadja Küchenmeisters Gedichte, wieder entfaltet. Insofern ist Der große Wagen gleich in mehrfacher Hinsicht ein großer Text.
Das Prinzip der Überblendung von Zeiten und Räumen ist bereits im eröffnenden Vers angelegt, fällt doch in jedem Blick zu den Sternen eine momentane Wahrnehmung auf ein in mitunter endlos weit entfernter Vergangenheit entstandenes Leuchten, das uns erreicht, obwohl es vielleicht bereits erloschen ist. Im Falle des Sternbilds des Großen Wagens ist dieses Leuchten von den drei Städten aus zu sehen, die den Schauplatz des Bandes bilden. Durch Berlin, Köln und Lissabon begleitet uns dabei ein lyrisches Ich, das mit dem Verlust eines nahestehenden, wahrscheinlich geliebten Menschen umgeht und, daraus erwachsend, einer sehr grundsätzlichen Erfahrung von Verlassenheit begegnet:
in berlin, köln oder lissabon, dieselben
fragen, was die hände greifen, was die füße
streifen, was die Gedanken machen
winke, winke, ausrufezeichen, du bist
ja gar nicht hier, verrückst die stühle
keinen millimeter mehr, du hauchst
keinen spiegel an, du bist kein dach
du bist kein unterstand, keine infrarot
kamera, die dich erfassen kann, kein sonar
ich höre dich lachen vor dem fernseher
ich höre das schmatzen der kühlschranktür
und ich höre das alles nur in mir.
Diese Erfahrung nicht in die eine oder andere Richtung hin aufzulösen, sie zu beklagen oder zu überwinden, sondern ihr selbst, in einem Prozess der Trauer und der Selbstverortung, mit den Mitteln des Gedichts einen Ausdruck zu verleihen, steht im Zentrum des Buches. Dieser Ausdruck entsteht nicht zuletzt in Folge einer besonderen Wahrnehmung, die der Text vielschichtig und eindrücklich in Szene setzt. Diese Wahrnehmung entzündet sich ebenso an sinnlicher Konkretion wie an sprachlichen, bildlichen und mitunter ganz freien Assoziationen und löst dabei in ihrem Kern die Unterschiede zwischen Erleben, Erinnerung und Traum auf:
du lachst im fenster, eine spiegelung, ein traum
von gestern, unter den schuhen, wohin man
einmal wollte, wir steigen ab vom miradouro
da graça in einen sommer wie heute, die hände
riechen nach dem armaturenbrett des ford fiesta
das zufallen der wagentür auf einem parkplatz
hinter dem wind, man hört das dumpfe
ineinandergreifen von kunststoff und eisen
beim ersten schritt schon an den rückweg
denken
Aufgeweicht sind damit auch die Ordnungen der Zeiten und Räume, durch die das Ich des Gedichts streift:
wir wissen nicht weiter in lissabon
gehen wir einen schritt nach vorn
rutschen wir die hacken voran
an den östlichen stadtrand, helwichstorpp
wir rutschen durch die süße abluft
vor der bäckerei, sonne kommt, legt sich
auf die gehwegplatten, wir rutschen
zum konsum, wo das flachdach glüht
in der mittagshitze wäschestangen
Zwischen Kindheitspfaden am Rande von Hellersdorf, Bahnfahrten von oder nach Sülz, oder Besichtigungen von Aussichtspunkten und Kirchen in São Vicente oder Graça verwandelt sich der lineare Verlauf der (Lebens-)Zeit so in eine poetische Gleichzeitigkeit, in der auch räumliche Distanzen aufgehoben werden:
… man faltet die karte zusammen
vorher faltet man sie auseinander
bis sich straßen, flüsse und gebirge
são vicente und das wuhletal, nord
und südpol und die kontinente
nicht mehr unterscheiden lassen
Die gefaltete Karte, in der sich die Überlagerung von Erleben, Erinnerung und Sehnsucht des lyrischen Ichs versinnbildlicht, findet eine Entsprechung in den imaginierten Stadtplänen, die sich beim Lesen des Gedichts auftun. Sie entstehen aufgrund der zahlreichen Straßennamen, Haltestellen und Sehenswürdigkeiten, die auf den Wegen durch Köln, Berlin und Lissabon genannt werden: „ich verlasse das café / sülzburg ecke luxemburger straße“, „wohin, an die grenze / der siedlung, von der gülzower straße / zum getränkelager“ , „da ist die baixa pombalina / die rua das escolas gerais, da ist alfama“.
Solche konkreten Bezugspunkte strukturieren ebenso die Außen- wie die Innenräume des Gedichts:
gelb wird wichtiger, ach, könnte ich doch
den zettel finden, den du mir hinterlassen hast
auf der kommode, da waren haferflocken
auf dem boden, in der spüle deine schlüssel
dein löffel, wo ist der Zettel, jeden sonntagabend
wenn ich kam, klemmte er unter dem honigglas
klemmte, wenn ich ging, dienstag, mittwoch,
donnerstag, wo ist er hin, ich scheue mich
ihn zu suchen, aus angst, ihn nicht zu finden
Die detaillierten, oftmals aufgezählten Sinneseindrücke werden weitergesponnen zu Erinnerungen, Gedanken und Wünschen, verdichten sich aber vor allem zu konkreten Spuren einer Abwesenheit – so frisch, als wäre die Person, die hier fehlt, gerade erst gegangen, vielleicht kaum zur Tür heraus. Diese unumgänglich scheinenden Erinnerungen trennen die Lebenden von den Toten: „man kann die toten nicht vergessen / aber die toten vergessen uns“.
Der Band ist voll von Überblendungen und Übergängen, diese letzte Schwelle zwischen Toten und Lebenden aber versucht Der große Wagen gerade nicht zu übertreten. Sie wird vielmehr in ihrer Unüberwindlichkeit fassbar gemacht – mal in direkter Adressierung im inneren Zwiegespräch mit der verstorbenen Person: „du wolltest nichts über die schwelle reichen“, „bleib, wo du bist, auf der anderen seite / der kreuzung“. Mal in anrührend gesetzten Bildern, wie dem „hauch, der nichts von etwas trennt“ oder den zwei Fliegen auf beiden Seiten eines Fensters – „die eine kam nicht rein, die andere flog / nicht raus“.
Was angesichts dieser Vielzahl von Sinneseindrücken, Empfindungen und Gedanken ebenso wie der Überblendungen von Zeiten und Orten Halt und Orientierung gibt, ist die klare Form des Gedichts. Es besteht aus zehn Kapiteln, die jeweils fünf mal acht an Terzinen erinnernde Gruppen von immer drei Versen umfassen.Jeweils am Seitenende werden diese Versgruppen mit einem Punkt abgeschlossen. Die Struktur verhindert, dass der Text zwischen Erleben und Erinnerung, Traumbildern und alltäglichen Augenblicken in zusammenhangslose Einzelteile zerfällt und zerrinnt. In dieser Ordnung erst fügen und verdichten sich sinnliche Eindrücke und Gedanken zu der existenziellen Erfahrung von Verlust und Verlassenheit, die das Gedicht verhandelt. Gerade als Langgedicht, das die besonderen Entfaltungsmöglichkeiten von Motiven, Bildern, Szenen und Stimmungen in einer strengen Komposition zusammenführt, findet Der große Wagen für diese Erfahrungen einen eindrücklichen und nachhallenden poetischen Ausdruck.
Nadja Küchenmeister - Der große Wagen. Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt am Main 2025