Mikhl Likht ‒ Prozession fünf | Protsesye finf
Ein Jahr lang stand dieser hochroth-Band von Mikhl Likht auf dem Fensterbrett meines Büros. Ich nahm ihn auf Reisen mit, brachte ihn ungelesen wieder zurück und hatte, zugegeben, die Befürchtung, ihm nicht gerecht zu werden, die vielen Zusammenhänge nicht zu verstehen, in denen dieses jiddische Langgedicht (das fünfte von insgesamt neun) zwischen den beiden Weltkriegen, in einem mir ziemlich unbekannten intertextuellen Kontext in Amerika entstand. Hochroth Heidelberg, ein Verlag, der sich auf Poesieübersetzungen spezialisiert hat, bietet verunsicherten Leserïnnen wie mir aber die Chance, sich diesem Text mithilfe einer deutschen Transkription, einer Nachdichtung und einem erläuternden Nachwort zu nähern, an denen insgesamt fünf Übersetzerïnnen auf unterschiedlichen Ebenen (die Herausgeber nicht mitgezählt) beteiligt waren.
Ich lese die Transkriptionen laut vor mich her, lache und staune, Jiddisch ist eine unglaublich rührende Sprache, die mir mit meinem Russisch und Deutsch vertraut vorkommt; es ist, als hätte jemand die babylonische Vielstimmigkeit aufgezeichnet, eine über endlose Flucht und Vertreibung hinweg adäquate Sprache erschaffen. Jiddisch an sich ist bereits Poesie. Deutsche Komposita, Zungenbrecher auf Papier („shtotgasn-farbaygeyers“) treffen auf russische Vokabeln („tramvay-klangen“, „skvern, gasn, parkn“), lösen sich im Mund in vertraute Bestandteile auf und erfreuen, denke ich, jede Leserïn osteuropäischer Herkunft. Ungewöhnlich sind zugleich die Metaphern: „Ich frühlinge mich verstellt“, proklamiert das Ich; „Meine Frau / Ist mir (was die Welt sein soll) die alten jiddischen Gesammelten Schriften / Meine Mutter ‒ / Des Bäckers Brot, des Pächters Butter“.
Erschrieben wird auch eine Stadt, die von Bewegungen, Geräuschen aller Art durchdrungen wird, dabei unheimlich starr bleibt: ein Radio dröhnt, mechanisch laufen Frauen Kinderwägen hinterher und Hochgewachsene bücken sich unter flache, niedrige Decken. Alles scheint auf den „toyt“ (Tod) wie einen Neuanfang zu warten, es kommen Wortspiele („A mayse mit a moyz“), Neologismen, Juden-Christen-Debatten, antike Göttïnnen, magische Ringe, Mastodonten dazu, Israel-Hasser verwandeln sich in Zion-Jünglinge, es wird immer skurriler, und als ich den Überblick endgültig verliere, endet alles mit ‒ „Un oys“ (Und aus).
Während ich diesen Text im Heinrich-Heine-Haus Lüneburg schreibe, ertönt auf dem Marktplatz eine antiisraelische Kundgebung. Es gibt keine passendere Zeit in Deutschland, um jüdische Literatur zu lesen, und wie gut, dass es von unabhängigen Verlagen in derartiger Feinarbeit ermöglicht wird.
Mikhl Likht –Prozession fünf | Protsesye finf. Aus dem Jiddischen transkribiert und übersetzt von Ildi Kovacs, Maimon Maor und Hans Thill, hochroth Heidelberg 2022