Gespenster, Leerstellen, blinde Flecken
Ein Bericht vom Poesiefestival (Writing Ghosts - 12.6.2025)
Gespenster – ungreifbare Leerstellen, lebendige blinde Flecken, Erinnerungsdämonen und andere Untote waren die thematische Klammer dieses Abends. Das schwer Fassbare, durch Tod und Gewalt Entrissene, dabei Verwandelte, auch Traum-oder Märchenhafte, erwies sich als Stoff für sehr unterschiedliche poetische Zugänge. Obwohl ernste Themen im Raum standen, wurde erstaunlich oft gelacht – Trauma und Verlust wurden nicht nur verzeichnet, sondern waren auch Gegenstand poetischer Transformation und Überschreibung. Diana Khoi Nguyen (USA), Sasja Janssen (Niederlande), Monika Herceg (Kroatioen) und Kim Hyesoon (Südkorea) brachten ihre Gedichte in einem ehemaligen Krematorium, dem Kuppelsaal des Silent Green, zu Gehör, eine Koinzidenz, die nicht unerwähnt blieb.
Moderatorin Irina Bondas eröffnete den Abend mit einer kurzen Reflexion über das Unheimliche bei Sigmund Freud, der auf das im Wort enthaltene Heim verweist – und damit auf einen schützenden Raum, der gesprengt und heimgesucht wird, zu etwas Fremdem wird. Ein Zitat aus Derridas Werk Marx’ Gespenster (1993, deutsch 2003) konnte als Leitmotiv für die Veranstaltung gelten: „Das Eigene eines Gespenstes, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem künftig Lebenden zeugt.“ Solche Gespenster sind dann wiederum, so sie existieren, zur Beschwörung auf leibhaftige Zeug:innen angewiesen, wie die Dichter:innen des Abends.
Diana Khoi Nguyen, die in ihren beiden Gedichtbänden Ghost Of (2018) und Root Fractures (2024) den Suizid ihres jüngeren Bruders mit den Schatten des Vietnamkriegs und der erzwungenen Flucht der Familie virtuos zusammenbringt, arbeitet formal vielfältig, wobei Leerstellen, Bewusstseinsströmen mit Weißräumen und formgleichen Umrissgedichten – die sie shades nennt – eine große Rolle zukommt. Ausgangspunkt für diese Gedichte sind Familienfotos aus ihrer Kindheit, aus denen sich ihr jüngerer Bruder Jahre vor seinem Suizid herausschnitt und die er mit diesen Leerräumen wieder an die Wand hängte, was von der Familie unkommentiert blieb. Die Dichterin machte in ihrem intensiven Vortrag die leeren Umrisse in ihren Gedichten durch Pausen im Vortrag erlebbar, oft mitten im Wort. In ihrer eigenen Anmoderation schlug sie den Bogen zu den taubenschlagartigen Aussparungen in der Kuppel des ehemaligen Krematoriums, die an Urnennischen erinnern und in denen sie eine mögliche Entprechung für die leeren Umrisse in ihren Gedichten sah. Irina Bondas brachte den Begriff der „radical eulogy“ ein, des „radikalen Nachrufs“, den Khoi Nguyen, die in den USA aufgewachsen ist und in Pittsburgh kreatives Schreiben lehrt, für ihr vielfach ausgezeichnetes Werk entwickelt hat.
Sasja Janssen las drei längere Gedichte aus ihrem Band Virgula (2021, engl. 2024) vor, die in einer poetischen Briefform an ein Komma, „Virgula“, gefasst sind. In ihren Gedichten wird „Virgula“ zur Zeugin prägender biografischer Episoden, darunter eine Schwangerschaft und intensive Liebesbeziehungen. Deren räumlicher Kontext – eine Insel im indischen Ozean, ehemals holländisch kolonisiert, eine im 11. Stock gelegenen Studierenden-WG, die schon für Suizide genutzt wurde – brachte zwar gelegentlich traumartig-unwirkliche Gegenstände hervor. So erschienen eine über dem Wochenbett schwebende Wolke, eine grüngolden schimmernde Tapete, eine Vogelspinne, und entwickelten ein geisterhaftes Eigenleben. Die Gedichte orientieren sich aber doch erkennbar stark am unmittelbar eigenen Erleben, bzw. der eigenen Erinnerung.
Gefragt nach dieser Nähe zur konkreten eigenen biografischen Erfahrung, bezeichnete Janssen das Schreiben der Gedichte als persönlich „notwendig“, grenzte sich aber vom Begriff der confessional poetry ab. Angesichts der Kürze der Zeit blieb diese Abgrenzung etwas unklar und darauf beschränkt, dass sie Schreiben nicht als „therapeutisch“ ansehe. Das Persönliche sei zwar dessen Ausgangspunkt, der Text müsse sich jedoch auf verschiedene Lesarten öffnen, müsse im Leser resonieren. Sie betonte auch den explorativen Zug ihrer Gedichte, diese sollten ihr selber etwas Neues zeigen, spielerisch sein.
Waren in den Gedichten von Khoi Nguyen und Janssen der jeweils sehr konkrete und biografische Ursprung der ‚Geister‘ offensichtlich, wurden diese in den Gedichten und im Vortrag der kroatischen Dichterin, Feministin und Aktivistin Monica Hecerg schon abstrakter. Die von Herceg vorgelesenen Gedichte nehmen auf den Balkankrieg und die Flucht davor Bezug, greifen aber auch Mythen und Bilder aus Hercegs Kindheit in einer ländlichen kroatischen Gemeinde auf: Ein Dorf auf einem Berggipfel, auf dem während des Kriegs ein Massaker stattgefunden hatte; Jäger und Mischwesen aus Wölfen und Menschen, Verwandlungen in Füchse; Fluchtgeschichten, die für Nachkommen in den Weißdorn am Wegrand gepflanzt werden; Tote, die wie Lebende ansprechbar sind, wenn man nur einen Tunnel in die Zeit gräbt. Ihre Menschen, die gestorben sind – wie Herceg berichtet, sind das viele – leben in ihren Gedichten weiter. Gewalttaten, die tatsächlich stattgefunden haben, gehen in grausame Szenen ein, die mit ihrer Grausamkeit zugleich an Märchen erinnern.
Herceg sei als Kind noch ohne Bücher, dafür mit den Geschichten des Dorfes und ihrer Vorfahren aufgewachsen, verwahrte sich in der Diskussion gegen Grenzen, welche Poesie vom Nicht-Poetischen trennen. Poesie könne sich grundsätzlich alles aneignen, Physik und Biologie (Herceg ist studierte Physikerin) ebenso wie imaginäre Welten. Wir lebten, auch wenn wir das gerne übersähen oder abwehrten, in einer Zeit der Mythen und Symbole, die Tiere und Pflanzen, Lebende und Tote miteinander verbinden – auch deswegen sei es für sie problematisch, hier Grenzen zu ziehen.
Solch Grenzen gibt es auch im Werk von Kim Hyesoon nicht mehr. Die Südkoreanerin schloss mit ihrem eindrücklichen Vortragsstil an ihre vorangegangenen Veranstaltungen auf dem Poesiefestival an. Sie forderte das Publikum auf, sich den transparentesten, schwereloseen und lichtesten Vogel als Sprecher ihrer Gedichte vorzustellen: Den Vogel aus ihrem Buch Phantom Pain Wing (2019), ein luzides Geschöpf, eine Gestalt aus dem Universum der Dichterin, das durchdrungen ist von Tod und Gewalt. Geister sind hier überall, Grenzen hingegen nicht mehr vorhanden, weder zwischen Lebenden, Toten und Geistern, noch zwischen Dingen und Menschen. Oder Tieren und Pflanzen. Der Tod sorge für eine Gleichwertigkeit all dieser Reiche.
Für den Vogel gibt es nichts mehr wie einen Boden, auf den er seinen Fuß setzen könnte, er kann sich nirgends niederlassen, und das ist der Grund, warum er zu fliegen beginnt. Fliegen ist, was er tut, und er gelangt an einen Ort, den die Dichterin „das Tal der Traurigkeit“ nennt, einen Punkt äußerster Traurigkeit, „wo uns diese Flügel wachsen“.
In ihrer Moderation suchte Irina Bondas nach Gemeinsamkeiten zwischen den vier Dichterinnen, griff immer wieder einzelne Verbindungen heraus und schlug dabei noch einmal den Bogen zurück von den so eigensinnigen wie analytischen, von traditionellen Mythen und individuellen Visionen durchwobenen Gedichten zu kollektiven Gewalterfahrungen.
Die unkonventionelle Art und Weise, mit der Kim Hyesoon die Dissektion der archetypischen Familie, deren Gewalt den Nährboden für Gewalt auf staatlicher und nationaler Ebene bilde, ins Zentrum ihrer Lyrik stellte – durch die Ansprache des Vaters mit „Du“, was im Koreanischen unvorstellbar respektlos ist – und damit eine antipatriarchale Haltung stark machte, war Schluss- und auch ein Höhepunkt dieses ergiebigen Abends mit vier starken poetischen Stimmen, der zeigte, dass Gespenster nicht nur eine ganze Menge über die reale Welt zu sagen haben. Sie können auch äußerst schöpferische Instanzen sein – vielleicht auch, weil sie einen ganz eigenen Diskurs einfordern, und sich geläufigeren entziehen.