Lea Schneider - Alternative Archive
Alternative Archive. Acht Gedichtgespräche nennt Lea Schneider ihre 2025 bei hochroth erschienene Anthologie. Es geht darin um die Möglichkeit eines Gegenkanons und um die Verbundenheit der Gegenwart mit der Vergangenheit, um den „Geist“, der Dichterïnnen der Gegenwart beim Schreiben hilft und der uns als Lesenden bei der Lektüre aufscheint.
Aber der Reihe nach: Lea Schneider, selbst Dichterin, Übersetzerin und Essayistin, unterrichtete 2024 ein Seminar zur kritischen Kanonforschung an der Freien Universität Berlin. Dabei entschied sie sich, „Kanon nicht als Bezeichnung für das zu begreifen, worüber sich alle einig sind, sondern im Gegenteil nach dem Kanon einer einzelnen Person zu fragen.“ Eben darum geht es in den so genannten „Gedichtgesprächen“. Schneider hatte im Rahmen ihres Seminars acht Gegenwartsdichterïnnen eingeladen, Auskunft über diejenigen Autorïnnen zu geben, die für sie zentral sind, mit denen sie sprechen und die sie beim Schreiben begleiten oder heimsuchen.
Wenn Lea Schneider schreibt, „In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Einladung zum Verwildern: eine Einladung, das Schreiben in der Gegenwart als Gespräch mit multiplen Vergangenheiten zu lesen“, bezieht sie sich auf eine Definition von „Geistern“ als einer „Rückkehr zu multiplen Vergangenheiten,“ die auf den Band Arts of Living on a Damaged Planet (2017) der Anthropologïnnen Anna Tsing, Heather Swanson, Elaine Gan und Nils Burbandt zurückgeht. In dem so entstehenden Mosaik, das einen Resonanzraum zwischen Gegenwart und Vergangenheit öffnet, entfalten sich vielstimmige Dialoge.
Denn die Gespräche selbst gestalten sich durchaus unterschiedlich. Interessant ist nicht nur der geographisch und zeitlich breite Rahmen – vom Spanien des 12. Jahrhunderts bis ins Berlin der Gegenwart –, sondern auch die Vielfalt der Form, mit der die unterschiedlichen Beitragenden ihre „Gespräche“ gestalten.
Björn Kuhligk erzählt in seinem Text über Hannelies Taschau zunächst, in welchem Kontext er auf sie gestoßen ist und dass er sich an die ersten vier Zeilen des Gedichtes „Verworrene Route“, ohne sie jemals auswendig gelernt zu haben, jederzeit erinnern kann. Sein dieser Dichterin gewidmetes Gedicht nimmt Sequenzen von Taschaus Gedicht auf, besonders aber die subtile Verbindung von scheinbar rein individuellen Erlebnissen mit politischen Haltungen. Dass Politik nicht vom Alltag zu trennen ist, wird auch bei Ozan Zakariya Keskinkilisç deutlich, der in einen Dialog mit Aras Ören tritt.
Ebenso wie bei Max Czollek geschieht auch bei Mátyás Dunajcsik die Begegnung mit der Dichtung bereits frühkindlich in Form von Liedern, die in der Familie gehört oder gesungen wurden. Während Czollek mit dem Gedicht „Wenn in mein grünes Haus ich wiederkehr“ von Theodor Kramer von seinem Vater in den Schlaf gesungen wurde, hörte Dunajcsik die von einer ungarischen Band vertonten Balladen Villons auf Familienreisen im Auto. Für seinen Beitrag dient Dunajcsik die Form der Ballade, um über seine „eigene widersprüchliche Lebensposition nachzudenken“. Über die Verlorenheit, die Heimatlosigkeit und fehlende Zugehörigkeit, die auch Keskinkilisç thematisiert, schreibt Dunajcsik: „Aber wenn man einen ausreichend weiten Horizont hat, kann man im großen Meer der Poesie immer Vorfahren und Ahnen finden, mit denen man sich weniger allein fühlt.“
Am eindrücklichsten stellt sich der Bezug auf die Geister der Dichter bei Max Czollek dar, dem bei der Beschäftigung mit Theodor Kramer besonders ein „Potential der Lyrik“ deutlich wird, „ihre Fähigkeit nämlich, einen Ort der Begegnung zu schaffen, der jenseits unserer Welt der Lebenden liegt […] ein Ort, an dem eine Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann, die die reale Welt einem verweigert“.
Andere Beiträge legen den Schwerpunkt auf die Sprache selbst, so Odile Kennel, die „ihre Symbiosewünsche“ an Adíla Lopes’ Gedicht sendet, oder Nora Zapf, die demonstriert, wie die Barockdichterin Sor Juana Inés del Perú in ihren Versen zu dem Schluss kommt, dass die Seele sowohl linguistisch als auch empfunden gleichermaßen dem einen als auch dem anderen Geschlecht zugehört.
Man könnte diese Anthologie mit einem Vers von Dietrich Bonhoeffer beschließen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen,/ erwarten wir getrost, was kommen mag.“ Die Beiträge sprechen aber gleichzeitig von der Verzweiflung, die viele von uns empfinden, weil Dinge geschehen, die wir längst überwunden glaubten.
Lea Schneider: Alternative Archive. Acht Gedichtgespräche. hochroth, München 2025. 54 S.,
10, – €.

