Einblicke in Randzonen
Literaturzeitschriften führen heute ein Nischendasein, manche sagen bereits deren Ende voraus. Aber hat man das nicht schon lange getan?
Anderseits: Wer hat noch ein Abo eines Literaturmagazins? Und wer braucht es, wenn Texte ohnehin kostenfrei in der Manege der digitalen Zweitwelt abrufbar sind? Jedem Autor seinen Blog, jeder Autorin ihren Auftritt bei TikTok, X und Co., je schriller, desto Ego-Boost, ohne kritische Redaktion mit inhaltlichen und stilistischen Ansprüchen! Wen wundert es also, dass sich das Interesse an literarischen Periodika in den letzten Jahren verminderte, die Abo-Zahlen, die Präsenz in Buchhandlungen und den Medien stark gesunken sind? Dass öffentliche Förderungen nicht valorisiert oder dass sie sogar reduziert werden, ist nur ein weiterer Schritt hin zum Verschwinden. So stellte etwa die seit 2014 erscheinende Literaturzeitschrift schliff (hrsg. vom Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln) 2023 ihr Erscheinen ein. Und 2024 wurde Der Literaturbote des Hessischen Literaturforums im Mousonturm mit der 145. Ausgabe nach fast 40-jähriger Publikationstätigkeit Geschichte.
Dabei rücken Literaturzeitschriften oft die innovativere Literatur in den Mittelpunkt, sind Experimentierfelder für eine Vielfalt literarischer Formen sowie poetologischer und ästhetischer Debatten und bringen neue Stimmen an die Öffentlichkeit.
Doch wie sieht es aktuell mit der Poesie in Literaturzeitschriften aus? Gegenstand dieses Beitrags ist eine Zeitschriftenschau, die lyrischen Inhalten nachforscht. Ort der Recherche war die Galerie der Literaturzeitschriften in der Alten Schmiede in Wien, in der Literatur- und Kulturzeitschriften aus Österreich, Deutschland und der Schweiz ausliegen, aber auch fremdsprachige, u. a. aus der Türkei, aus Schweden, Litauen, Slowenien und Frankreich. Zeitraum der Recherche war September 2025, mein Zugang subjektiv und lückenhaft – wie könnte es bei einem Text mit Zeichenvorgabe anders sein?
orte
Sie zählt zu den ältesten Literaturzeitschriften der Schweiz. Gegründet 1974 von Werner Bucher war sie seit 2015 im Verlagshaus Schwellbrunn angesiedelt und feierte letztes Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Sie erscheint fünfmal jährlich mit thematischen Schwerpunkten, ergänzt durch Rubriken wie die orte-Werkstattgespräche, die orte-Bestenliste oder die orte-Galerie. Veröffentlicht werden Gedichte, Essays und Prosa aus den vier Sprachregionen der Schweiz, aber auch aus anderen Ländern. Ein Schwerpunkt jedes Hefts ist die Lyrik.
Die im August erschienene Nummer 232, ein Kooperationsprojekt mit dem Musikfestival „Alpentöne“ und dem Institut „Kulturen der Alpen“, trägt den Titel Föhnrausch. Ausgangspunkt war ein Lexikon mit Begriffen alpiner, auf Akustik ausgerichteter Naturphänomene. Ein Dutzend Beitragende, darunter die Dichterïnnen Irène Bourquin, Charles Ferdinand Ramuz, Lea Schubarth und Angelika Overath, hat dazu Texte verfasst, die das klangliche Potential von alpinen Stimmungen, Wetterlagen und Vorkommnissen ausloten, etwa jenes eines Bergsturzes, der Gletscherschmelze oder einer Lawine – beispielhaft ein Gedicht von Flurina Badel (*1983), das im Heft im rätoromanischen Original und in der Übersetzung von Ruth Gantert abgedruckt ist.
kein wort
lass hören
den halm
das leimkraut
den hasenfuss bei der schafgarbe
die glocken-, flocken- und witwenblumen
vergissmeinnicht und teufelskralle
tuscheln prahlen lästern
klee krakeelt aus drei kehlen
margeriten randalieren
pimpinellen bellen
brennnesseln brüllen
eine üppige wiese
in die stille zu wiegen
Enthalten sind zudem eine Rezension der mehrsprachigen Gedichtauswahl Ultimo Canto des Aargauer Lyrikers Virgilio Masciadri (1964-2014) (alla chiara fonte editore, Lugano 2025) und eine weitere des Lyrikbands Im Orbit einer Sonne von Irène Bourquin (Caracol Verlag, Warth 2025).
Nicht unerwähnt soll die zuvor veröffentlichte Nummer 231 bleiben. Sie unternimmt einen Streifzug durch die lange Lyriktradition der Kloster-, Sticker- und Bratwurststadt St. Gallen, beginnend im späten Frühmittelalter mit dem Engelsgebet von Mönch Notker Balbulus und bis in unsere Tage reichend. Im einführenden Text wird auch die Dichtung in St. Galler Mundart angesprochen. Man stelle sich eine ähnliche Übersicht für andere Städte mit rund 80.000 Bewohnerïnnen vor, etwa für Delmenhorst, Konstanz oder Worms!
Ab 2026 stehen Veränderungen für die Edition an. Nach dem Rückzug des Verlagshauses Schwellbrunn übernimmt der Verein „Literaturzeitschrift orte“ die Gestaltung gemeinsam mit wechselnden Kooperationspartnern. orte soll dann nur mehr zwei- bis dreimal jährlich erscheinen. Man wird sehen, was diese Veränderungen für die Zukunft der Literaturzeitschrift und die bisher stark vertretene Poesie bedeuten werden.
Wespennest
zeitschrift für brauchbare texte und bilder lautet der Untertitel dieser österreichischen Literaturzeitschrift. Gegründet wurde sie 1969 als Autorenprojekt von den Schriftstellern Peter Henisch und Helmut Zenker. Lange vierteljährlich erscheinend kam es 2010 zur Reduktion auf ein Frühjahrs- und Herbstheft, die sich den Genres Literatur und Essayistik widmen, gelegentlich ergänzt durch Sonderhefte.
Thema des Frühjahrshefts Nr. 188 ist Komplexität. Daneben gibt es neue Prosatexte und zwei Dichterstimmen zu entdecken. Da ist zum einen jene des indischen Lyrikers und Kunsttheoretikers Ranjit Hoskoté (*1969) mit Auszügen aus seinem 2023 erschienenen Lyrikband Icelight (Penguin 2023), übersetzt von Ron Winkler. Seine Gedichte tragen meist kurze Titel, etwa „Tacet“, „Eklipse“, „Eislicht“ oder „Katapult“. Es sind Momentaufnahmen und Traumfragmente in bildhafter Sprache, die um Erinnerungen, die Endlichkeit und die nahe Klimakatastrophe kreisen sowie um Sprache und Fragen richtiger Benennung.
Da ist zum anderen der Dichter, Verleger und Aktivist Dmitri Strozew (*1963), der zu den wichtigsten Stimmen der russischsprachigen Lyrik in Belarus und Russland zählt und Bürgerrechtsbewegungen verbunden ist.
Strozew lebt in Deutschland im Exil, wo er den Verlag Hochroth Minsk als Plattform für belarussische und im Exil lebende Schriftstellerïnnen gründete. Seit den 2000er-Jahren gibt er den Almanach und die Lyrikreihe Minskaja škola (Minsker Schule) heraus, die an nonkonformistische belarussische Autorïnnen erinnern. In seinen Schriften verdeutlicht Strozew, übersetzt von Andreas Weihe, was es heißt, wenn Dichtung unter den Bedingungen von Gewalt und Widerstand entsteht, Zeugnis ablegt und politischen Ereignissen eine Stimme gibt.
die belarussischen flüchtlinge
empfangen die ukrainischen flüchtlinge
auf polnischen bahnhöfen
staffellauf der gewalt
staffellauf des leidens
staffellauf der liebe
06.05.2022
Sein kreatives Verfahren nennt er „Poetische Reportage“. Und er legt dar, wie sein Schreiben sich angesichts der Gewalt in Belarus und anderen Ländern veränderte, nämlich als Sprechen „aus dem Geschehen heraus“:
Die poetische Reportage wird [...] immer aus einem Zustand des Ergriffenseins, der Erschütterung durch ein Ereignis geschrieben. Dabei kann die poetische Äußerung aus einem Prosatext erwachsen, wenn sich plötzlich der Aggregatzustand der Rede verändert und du begreifst, dass das, was du geschrieben hast, keine Prosa mehr ist, sondern Poesie.
In dieser Ausgabe sind zudem zwei bemerkenswerte Rezensionen, nämlich zu Werner Kofler: Kommentierte Werkausgabe. Band 4: Hörspiele / Band 5: Lyrik, Kurzprosa, dramatische Texte, hrsg. v. Wolfgang Straub und Claudia Dürr (Sonderzahl, 2023), sowie zu Uljana Wolf: Muttertask (kookbooks 2023) enthalten.
perspektive
Die Grazer Literaturzeitschrift begreift sich als Labor für zeitgenössische Literatur und hat sich der Widerständigkeit verpflichtet. Entstanden 1979 als Schülerïnnenzeitschrift machte sie etliche Verwandlungen durch und erscheint aktuell vier Mal jährlich. Die Sondernummer p124 mit dem Titel heli-halo ist das dritte Heft des Jahres, eine posthume Annäherung an den Avantgarde-Schriftsteller und langjährigen perspektive-Mitherausgeber Helmut Schranz (1963-2015) in Form von Erinnerungen, Auseinandersetzungen mit dessen Texten und Überschreibungen. Schranz positionierte sich stets gegen Bestsellerliteraturen, lineares Erzählen, Psychologisieren und mangelnde Experimentierfreude. Der hybride Schranz-Kosmos entzieht sich der germanistischen Einteilung in Genres und Textsorten, erkennbar schon an Titeln wie jenem seiner letzten Publikation Birnall. suada. Lyrik vulgo Prosa (Ritter Verlag 2015). Dieses Zwischen prägt auch die perspektive, die, so Stefan Schmitzer, einer der Herausgeber, im Editorial zum Vorgängerheft p123, den Ruf trägt, „ca. gegen alles zu sein“, worunter u. a. die Kulturbetriebskritik aus Sicht der Avantgarde zu verstehen ist. Formal gibt es in p124 Texte mit Anklängen an Schranz in Gedichtform, etwa von Lilly Jäckl, Florian Neuner und Clemens Schittko. Abseits davon sind auch „Poeme“ von Silke Vogten und gewohnt kurze voll Lakonie von Lütfiye Güzel abgedruckt:
an diesem punkt
die worte
in einmachgläsern
aufbewahren
eine sprachlosigkeit
und ihre
haltbarkeit
Akzente
Die Zeitschrift wurde 1953 von Walter Höllerer und Hans Bender gegründet und ist eine der ältesten Literaturzeitschriften Deutschlands. Bis 2024 erschienen sechs Ausgaben pro Jahr im Carl Hanser Verlag. Danach gab es einen Wechsel zum Dittrich Verlag. Es gibt nur mehr drei Ausgaben jährlich, die themengebunden und offen für Lyrik, Kurzprosa und Essays sind. Die im Juli erschienene Ausgabe 2/25 widmet sich dem Thema Alter. Stimmen unterschiedlicher Generationen umkreisen die „Spuren der Zeit“, Lebenslinien, Verluste, die Relativität von Zukunft und die Tatsache der eigenen Sterblichkeit. 15 Prosa- und 13 Lyrikbeitragende wurden aufgenommen. Das Alter letzterer und damit deren Erfahrungsräume sind breit gestreut. Dagmar Nick (*1926) meint in ihrem Gedicht „Zurzeit“ angesichts ihres Alters, sie sei „abgehärtet genug, um nicht/ zu erschrecken“, wirft die Frage nach der Zukunft auf oder konstatiert in „Aussichten“ nüchtern: „Im Sog dieser Sterbezeit/ werden die Wände durchlässig, durch die/ ich entschwinde“. Jüngster Dichter ist Nico Feiden (*1993), der nach dem Tod seiner Großmutter im Gedicht „hoffentlich haben wir flügel“ die mythologische Vorstellung aufgreift, dass sich Seelen in Vögel verwandeln. Er sinniert, welche wir sein werden, „vielleicht“ ein Rotkehlchen, das mit anderen Familienangehörigen „nach süden wandern“ wird und wieder zurück. Und er setzt nach:
vielleicht
ist auch nur der gedanke,
etwas in der welt zu wissen,
was für immer verloren ist,
trost genug
Daneben und dazwischen gibt es die lyrischen Stimmen von Fouad El-Auwad, Anja Liedtke, Barbara Peveling, Lisa Häberlein, Bruno Kartheuser, Anna Hombach, Albert von Schirnding, Joachim Salewski, Christoph Danne und Annette Lentze zu entdecken – beispielhaft der Beitrag von Nathalie Schmid (*1974):
Dass ich einmal gewesen sein werde
eine Erinnerung einer Erinnerung einer Erinnerung
und dann Stille. Wind der über Ebenen und
Felsen fegt. Eine Bewegung in den Baumkronen
eine Bewegung im Reh dann ist es
verschwunden. Brombeerhecken die immer
weiterwachsen. Noch immer singen die Vögel
am Ende des Tages von Dingen
die ich kennen will.
Literaturzeitschrift orte Nr. 232: Föhnrausch, orte-Verlag, Schwellbrunn 2025. 76 S., 18, – CHF.

