Ein Freihafen für das Wort

Ein Freihafen für das Wort

Ein Bericht vom Poetry International Festival Rotterdam

(Übersetzung von May Mergenthaler; Orignalbericht hier)

„Es gibt Dichter, ob geknebelt oder nicht, deren Stimme lauter klingt als Regierungserklärungen.“

„Poetry International will der menschlichen Stimme Gehör verschaffen.“ (Adriaan van der Staaij)

Poetry International, ein Poesiefestival in Rotterdam an der Nordsee, fand im Juni dieses Jahres zum 55. Mal statt. Was macht dieses Festival so besonders und wie passt es sich den Veränderungen unserer Zeit an?

Das Festival Poetry International entstand 1970, wahrscheinlich inspiriert durch eine Reihe von Initiativen dieser Zeit, wie den Auftritt von Allen Ginsberg in der Albert Hall fünf Jahre zuvor, die Gründung der Londoner Poetry International oder das Festival dei Due Mondi in Spoleto (Italien). Der damalige frischgebackene Direktor der Rotterdamer Kunststichting (Adriaan van der Staaij) sah in einem Festival die Chance, Rotterdam als „kulturellen Freihafen“ zu etablieren. Zusammen mit dem ersten Direktor von Poetry International (Martin Mooij) ermöglichte er die Entwicklung eines Festivals mit Vorzügen, die es von anderen seiner Art deutlich unterschieden: Ein mehrtägiges bis einwöchiges Festival, das ausschließlich der Poesie gewidmet ist und bei dem die meisten Dichter und Zuschauer während der gesamten Veranstaltung anwesend sind.

In den ersten Jahren war Rotterdams Poetry International geprägt von politischem Engagement, Anarchie und Improvisation. Es bestand hauptsächlich aus Lesungen und einigen spontanen improvisierten Gedichtvorträgen in der U-Bahn (Ernst Jandl) oder im Hafen (Adrian Mitchell). Übersetzungen wurden vor Ort angefertigt.

Von Anfang an kamen die eingeladenen Dichterïnnen aus aller Welt und repräsentierten eine Vielzahl von Sprachen. Übersetzungen fanden daher große Beachtung und standen bis zu den 1990er Jahren sogar im Mittelpunkt des Festivals. Es wurden Übersetzungsprojekte rund um ein dichterisches Werk organisiert (das erste von 1972 widmete sich der Lyrik des Avantgarde-Dichters Paul van Ostaijen). Die teilnehmenden Dichterïnnen sollten sich, unabhängig davon, ob sie Übersetzungserfahrung hatten oder nicht, mit dem zu übersetzenden Text des ausgewählten Werks auseinandersetzen und gemeinsam an einer Art Übersetzungskette von Sprache zu Sprache teilnehmen. Manche nannten das „Weiterflüstern“. Übersetzen wurde als politisches Statement verstanden.

Im Mittelpunkt standen in der Gesellschaft marginalisierte Dichterïnnen (oder deren Werke) sowie bestimmte Entwicklungen der Dichtkunst, beispielsweise Autorïnnen, die im Gefängnis gewesen waren oder im Exil lebten, aber auch solche, deren Gedichte nicht unter gängige Definitionen des Genres fielen, wie beispielsweise die Gebärdenpoesie. In dem Gedicht, das Allen Ginsberg 1979 für Martin Mooij schrieb, kommt diese Aufmerksamkeit für das Randständige deutlich zum Ausdruck: 

In Rotterdam, the Tower of Babel

rises unbombed to the rainy sky

today – many tongues babbling

their compleynts under grey clouds

An Indonesian poet came from black jail singing

A poet from East Berlin uttering Consonants

A poet or two from Russia, silent in absentia

Poets from America, poisoned by plutonium

still chanting Whitmanic vowels

Poets speaking natural French, utter Dutch

caroling in Japanese and Roumanian

muttering in German, soothsaying in 

African syllables –

What human music emerges from the Tower of Babel?

In MIND-museum the Babel Tower

sits silent thru centuries of heaven-breath*

In Rotterdam erhebt sich der Turm zu Babel

heute nicht-bombardiert in den Regenhimmel

– viele Zungen lallen

ihre Klagen unter grauen Wolken.

Ein indonesischer Dichter kam singend aus dem schwarzen Gefängnis

Ein Dichter aus Ostberlin äußert Konsonanten

Ein oder zwei Dichter aus Russland sind schweigend abwesend.

Dichter aus Amerika, vergiftet durch Plutonium

die immer noch Whitman‘sche Vokale skandieren

Dichter, die natürliches Französisch sprechen, sprechen Niederländisch

tirilieren auf Japanisch und Rumänisch

murmeln auf Deutsch, prophezeien in 

afrikanischen Silben –

Welche menschliche Musik dringt aus dem Turm zu Babel?

Im DENK-Museum steht der Turm zu Babel 

still durch Jahrhunderte des Himmel-Atems*

Die Festival-Themen waren im Laufe der Jahre marginalisierten Dichterïnnen am Rande gewidmet. So war beispielsweise 1992 das Thema „Das Jahr des Affen“, und es wurden chinesische Dichter eingeladen, deren Werke in ihrem Heimatland zensiert wurden. 2010 richtete das Festival die Aufmerksamkeit auf Poesie aus den Vereinigten Staaten, die durch die Ereignisse vom 11. September 2001 aus dem Blickfeld geraten war. Seit Jahren hat auch die Gebärdensprachepoesie ihren festen Platz im Programm. Von Anfang an war das Festival also eine klare kulturelle Gegenstimme. 

Auf diese Weise hatte es sich bald zu einem einzigartigen Festival entwickelt, noch bevor die meisten Literaturfestivals entstanden, und widmete sich von Beginn an ganz der Poesie. Poetry International war außerdem in den 1990er Jahren mit 40 Dichterïnnen eines der größten Festivals und bekannt für seine gute Organisation, seine Internationalität und die hohe Qualität der Übersetzungen.

Bereits im ersten Jahr waren damals noch junge und unbekannte Dichter eingeladen, die später international Anerkennung fanden, wie Zbigniew Herbert, Lars Gustafsson und Ernst Jandl. Zu den weiteren Dichterïnnen, die im Laufe der Jahre Gäste von Poetry International waren, gehören Günter Bruno Fuchs, Gerald Bisinger, Erich Fried, Breyten Breytenbach, der Merseypoet Adrian Henri, Hans Magnus Enzensberger, Jon Fosse, Antjie Krog, Anne Carson, Ben Okri, Seamus Heaney, Derek Walcott, Édouard Glissant, Hone Tuwhare, Tomas Tranströmer und Allen Ginsberg, um nur einige bekannte Namen zu nennen. Nicht zu vergessen sind aber auch die Autorïnnen, deren Stimme in ihren Herkunftsländern nicht willkommen war, nicht zur gängigen Dichtkunst passte, darunter z.B. der Iraner Ali Abdolrezaei oder die chinesischen Dichter Yang Lia, Duo Duo und Bei Dao. Eine kürzlich erfolgte Zusammenarbeit zwischen Poetry International und Versopolis ermöglicht es vielversprechenden Dichtern, ins Englische übersetzt zu werden und auf dem Festival zu präsentieren, wie Radosław Jurczak und Danae Sioziou (Griechenland), und in diesem Jahr Diana Anphimiadi (Georgien) und Ljuba Jakymtschuk (Ukraine).

Im Laufe der Jahre hat das Festival einige Kursänderungen erfahren. Als beispielsweise Tatjana Daan in den 1990er Jahren die Leitung übernahm, wurde beschlossen, den politischen Charakter des Festivals abzulegen und den (im Laufe der Jahre entstandenen) zur Selbstbezogenheit neigenden Dichterïnnenkreis für ein größeres Publikum zu öffnen. Eine weitere wichtige Entwicklung von außen war die drastische Kürzung der Mittel für den Kultursektor in den Niederlanden im Jahr 2010, von der auch das Poetry International Festival betroffen war und die dazu führte, dass die Zahl der Gäste um die Hälfte schrumpfte.

Obwohl das Politische nie ganz aus dem Festival verschwand (auch nicht in den 1990er Jahren), war auf dem diesjährigen Festival doch eine Wiederbelebung dieser Dimension zu spüren. Oder vielleicht besser gesagt, der Beginn einer neuen Suche nach der gesellschaftlichen Haltung der Dichtung. Der weltweite Rechtsruck und die Bedrohungen der Demokratie und der Menschenrechte, die auch in den Niederlanden immer stärker zu spüren sind, erfordern eine erneute Auseinandersetzung mit der Politik. Das Hauptthema in diesem Jahr war „The Poetry Summit: Laureats and Legends“; und geplant war, während des Festivals eine „Declaration for Future Generations“, ein Manifest zur Poesie, zu verfassen. Der „Poetry Summit“ wurde mit einem UN-Gipfel verglichen, und besonders einflussreiche Stimmen wurden dazu eingeladen, über den Status quo der Dichtkunst in ihrem jeweiligen Land zu sprechen. Diese Stimmen waren vor allem, aber nicht ausschließlich, Poets Laureate wie Simon Armitage (Großbritannien), Esther Phillips (Barbaros), Chris Tse (Neuseeland), Patricia Jabbeh Wesley (Liberia) und Kwame Dawes (Jamaika), um nur einige zu nennen.

Aber lässt sich die Dichtkunst in einer Art Institutionalisierung wie der eines UN-Gipfels einfangen? Oder liegt die Kraft der Poesie als Gegenstimme gerade darin, dass die Dichter für eine solche Institutionalisierung zu freigeistig sind? Im Laufe des Festivals trat der Fortschritt eines ‚Poesiegipfels‘ in den Hintergrund. Deutlich wurde jedoch die Vielfalt der verschiedenen Arten von Poesie und ihrer Zielgruppen – ein Beispiel für die Demokratisierung von Lyriklesungen. Während in einem Saal der niederländische Johan Polak-Preis an den besten niederländischen Gedichtband der letzten drei Jahre (Waar is het lam? von Mustafa Stitou) verliehen wurde, ging es in anderen Räumen um Gebärdensprachenpoesie (mit Ian Sanborn, Dana Cermane und einem Vortrag von Alicia Sort Leal). Wieder anderswo fand ein Gespräch mit früheren niederländischen poet laureats über ihr Engagement für die niederländische Poesie statt, während die diesjährige niederländische Poet Laureate Babs Gons an einem weiteren Ort eine „Laut auf!”-Aufführung organisierte, bei der ausgewählte Poesieliebhaberïnnen ihre Lieblingsgedichte (auswendig) vortragen durften.

So fanden die verschiedensten Formen der Poesie und ihrer Diskussion nebeneinander statt. Doch auch miteinander? Fühlt sich das Festival, dessen Dauer im Laufe der Jahre von einer ganzen Woche auf dreieinhalb Tage verkürzt wurde, immer noch, wie bei seinen Anfängen, wie eine Poesie-Kneipe an, oder bleiben die Grenzen zwischen den verschiedenen Lyrik-Genres bestehen? Und welche Rolle spielt die Übersetzung als politisches Statement in den letzten Ausgaben des Festivals? 

Die Bedeutung der Poesie, sogar ihre Dringlichkeit, war an vielen Stellen spürbar, aber was fehlte, war eine Aktivität oder ein Ereignis, das die verschiedenen Gruppen hätte zusammenführen können. Ein solches Gemeinsamkeit schaffendes Ereignis hätte die Verlesung der Declaration for Future Generations sein können, die jedoch erst ganz am Ende des Festivals stattfand, als viele der Dichterïnnen und Besucherïnnen bereits abgereist waren. Die Erklärung, die immerhin zustande kam, begreift die Dichtkunst, in Übereinstimmung mit der Geschichte des Rotterdamer Poesiefestivals, als eine notwendige Gegenstimme und Dichterïnnen als „Chronistïnnen unserer Zeit“ – sie ruft auf, den Status quo kritisch zu hinterfragen und zensierte Narrative durch die Dichtung ans Licht zu bringen. Auch die Tendenz der Poesie zur Demokratisierung und die junge Lyrikerïnnen-Generation, die ihre eigenen Verlage und Festivals organisiert, finden Erwähnung. Letztere Entwicklungen machen vielleicht die meiste Hoffnung. Denn solange Dichterïnnen ein gewisses Maß an Anarchie bewahren, bleibt die Poesie als Gegenstimme lebendig.

* So steht es im signierten und datierten handschriftlichen Manuskript, siehe the allen ginsberg project: Friday’sWeekly Round-Up – 189, September 12, 2014, https://allenginsberg.org/2014/09/fridays-weekly-round-up-189/ [Zugang 22.08.2025]. Notiert von M. Matthee auf der Grundlage ihrer Lektüre des Manuskripts und der Übersetzung von Simon Vinkenoog ins Niederländische, siehe https://www.poetryinternational.com/nl/poets-poems/poems/poem/103-23764_FOR-MARTIN-MOOIJ. Übersetzung ins Deutsche von M. Matthee und M. Mergenthaler.

Quellen:

van Hengel, Mirjam: Goedemorgen schoonheid, Special issue of the Groene Amsterdammer on Poetry International Festival Rotterdam 50 years, 23.5.2019, 4-7.

Menkveld, Erik: Poetry International 1970-1999. Dertig jaar wereldpoëzie in Rotterdam, 42 Ons Erfdeel, 1999. 

Monna, Janita: Herinneringen aan Poetry International. Spruitjeslucht, is daar eigenlijk een woord voor in het Noors?, Trouw, 9.6.1999.

Poetry International website: www.poetryinternational.com [Zugang 22.08.2025].

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Poetik des Tröstlichen

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