Alexander Graeff – Deine Revolution für Ungenauigkeit hat Zukunftswert
Revolution? Unbedingt, aber auf den zweiten Blick. Und vielleicht eine mit Gedichten statt Pamphleten. In dem neuen Gedichtband von Alexander Graeff, einem der interessantesten Lyriker der Gegenwart, übt ein geistreicher Homo ludens elegant Kritik an normativen Verhältnissen, auch sexuellen. Graeff setzt die Sprache spielerisch und erfrischend unerwartbar ein, um in jeder Zeile eine Übereinstimmung mit dem Inhalt zu erzeugen:
Mein Kurs in die Welt
war ein Zickzack ein
unübersichtliches Zimzum ich
war aus dem Dreivierteltakt der Existenz gefallen
Graeff beschäftigt sich in vielen Gedichten („Boys Club“ und „Überall Männer“), selbst in seinem „Aminosäurenzyklus“ (von Adrenalin bis Testosteron), damit, wie Identitäten konstruiert und Abgrenzungsmechanismen etabliert werden, wie Menschenfeindlichkeit entsteht. In Gedichten wie „Othering“ , „Fahnenschwenker, Die“, „Ein weiterer Versuch: Sachsen“ oder „Ich sage Ja zur Vielweltentheorie“ setzt Graeff sich überdies mit soziologischen Themen auseinander, ohne jedoch entfernt im Journalistischen anzukommen, ohne Magie aufzugeben. Den Trend, griffig-unmissverständliche Polit-Poesie zu produzieren, macht er nicht mit.
Graeff ist nicht nur Lyriker, er ist auch Philosoph, Essayist und Literaturvermittler (u.a. als Programmleiter für Literatur in der Berliner „Brotfabrik“). Das lineare Schreiben behält er sich für andere Bereiche seiner vielseitigen Arbeit vor.
Seine Lyrik glitzert erfindungsreich; für körperliche Empfindungen findet Graeff neue, nicht abgenutzte Worte. Oft manifestieren sich die Zumutungen der Gegenwart bei Graeffs lyrischen Ich oder Wir somatisch.
So beginnt das Gedicht „Wohnungssuche“ mit der Strophe:
Basaltgrau ist die
Landschaft in mir
Wir strampeln uns ab
Für Rauhfasertapeten
Die Möglichkeit eines anderen Lebens deutet Graeff an, indem er das Gedicht „Kali“ zweimal schreibt: einmal als „Kali, Wirklichkeitsform“ im Präsens und ein zweites Mal, indem er „Kali, Möglichkeitsform“ (so die beiden Titel) konjunktivisch durchdekliniert. Das ist sprachlich konsequent und deutet doch gleichzeitig Trauer über die eigenen begrenzten Möglichkeiten in einer zunehmend „unmöglichen“ Welt an.
Weg vom Ich-Körper im starren Präsens bewegt sich Alexander Graeff auch, indem er mit Zitaten operiert. Die zitierten Stellen werden dabei nicht seiner Lyrik „unterworfen“ und ihr passgerecht einverleibt, nein, sie stehen frei im Textganzen wie eigene Gedichte: von der Kollegin Maxi Obexer über die Zoologin und Umwelttheoretikerin Rachel L. Carson und die feministische Denkerin Donna Haraway bis zur Pop-Ikone Laura Branigan - sehr unideologisch von High zu Low Culture geben sie doch einen Takt vor in Sachen Grenzauflösung, Bewegung hin zum Anderen, über eine mögliche narzisstische Ich-Fokussierung im Gedicht hinaus.
Vielleicht hat auch der berühmte tschechische Tier-Humor (Graeff hat eine Weile lang in Prag gelebt) Niederschlag in Graeffs Werk gefunden. So erzählt Graeff die Saga von einer jungen Frau, die einen Hund statt einen Mann aus ihrem Dorf heiratete. Über die zunächst indignierten Großeltern heißt es: “Vater und Mutter nahmen ihre Tochter wieder auf und erfreuten sich doch an ihren schlappohrigen Enkeln”. Manchmal kann man sich auch schlapplachen bei Graeff.
Anyway: Nicht nur der/die Andere interessieren Alexander Graeff, sondern auch nichtmenschliche Lebensformen. So widmet er ein Gedicht einer Maus, die „unter den Dielen meines Zimmers erst scharrte, dann rannte, dann verhungerte“. Und in „Berlin ist am Ende“ rekurriert er auf ein ungeheures Ereignis: Wie eines der weltweit größten Aquarien in Privatbesitz in einem Berliner Hotel zerbarst und unglaublich viele Tiere sterben: „viele ersticken auf Berliner Straßen wo sie von kommenden Revolutionen träumen“.
Ein wunderbares Buch für sensitive Rebellen.
Alexander Gräf: Deine Revolution für Ungenauigkeit hat Zukunftswert, Gedichte, Verlagshaus Berlin, Berlin 2025